Jaja, ich weiß, manche/r hätte gern mehr Fotos aus Shanghai und von unterwegs gesehen ... insgesamt sind in den vergangenen dreieinhalb Jahren ca. 45.000 Stück entstanden. Aber das hat man eben nur zum Teil meiner Faulheit zu verdanken - zu einem mindestens genau so großen Teil der chinesischen Regierung mit ihrer "great firewall". Hoch lebe das freie Internet!


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Das neue Jahr des Schweins

Wenn ich es schaffe, gibt es hier übrigens auch noch Updates, und zwar aus den bisher unveröffentlichten Reisetagebuchnotizen.

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Sonntag, 18. Oktober 2009: Vom Wutaishan nach Datong

Ach ja, fruehstuecken im sehr chinesischen Vier-Sterne-Hotel: es gibt keinen Saft, statt Tee nur einen undefinierbaren Blumenaufguss, und spaeter wird noch eine mattgraubraune Fluessigkeit ans Buffet gebracht, von der ich vorsichtshalber nur einen Loeffel voll probiere: aha, ein kaffeegeschmackhaltiges Getraenk. Da muss ich wohl heisse Milch trinken. Das sind die Momente, in denen ich gegen eine unbeschraenkte Expansion von "Schingbacke" an alle auch nur halbwegs zivilisierten Orte absolut nichts einzuwenden habe. Ueber das Essen schweige ich auch lieber, allerdings koennen sie hier ganz leckeres suesses Gebaeck machen.

Abfahrt ist um acht Uhr; fuer den Vormittag stehen die drei wichtigsten Tempel am Wutaishan auf unserem Programm, der Pusa Ding ("Boddhisattva-Spitze"), das Xiantong Si und das Tayuan Si. Sue gestaltet uns den Besuch bequem, aber auch irgendwie verkehrt: wir betreten die Boddhisattva-Spitze, den hoechstgelegenen Tempel, quasi durch die Hintertuer und gehen dann stetig bergab, bis wir alle drei Tempel durchwandert haben. Die verschiedenen Gebaeude und Hallen dieser recht grossen Tempelanlagen bedecken einen ganzen Berg. Halbwegs im Tal liegt eine angeblich 50 Meter hohe weisse Dagoba (im tibetischen Stil, heisst es), die als Wahrzeichen des Ortes taugt: der weisse Turm inmitten roter Mauern sorgt fuer eine recht einmalige Ansicht.

Der/die/das Pusa Ding ist ein kaiserlicher Tempel, mit Drachenmotiven und strahlenden Daechern aus gelb glasierten Ziegeln. Vor der Manjushri-Halle, die hier die Haupthalle ist, sieht man eine loechrige Steinplatte. Sue erzaehlt, dass hier frueher bei jedem Wetter Wasser vom Dach getropft sei (und steter Tropfen hoehlt den Stein eben ueberall auf der Welt - obwohl er ihn hier auch mit Sinter aufgebaut hat), was besonders im Sonnenlicht wunderschoen ausgesehen habe. Und hier braucht man nun gar nicht auf die Klimaveraenderung zu schimpfen: hier ist bloss irgendwann das Dach repariert worden, da hat es sich ausgetropft. Schade eigentlich!

Der naechste Hof birgt einen Raum mit drei riesigen Toepfen, in denen anno dunnemals fuer die zahlreichen Moenche gekocht wurde. Die haben bestimmt 1,5 Meter Durchmesser und sind 1 Meter tief, da passt schon viel Brei und Suppe hinein. Jetzt werfen die Leute Geld hinein - irgendwie scheinen Chinesen noch lieber als andere Nationalitaeten mit Geld herumzuwerfen.

Eine der naechsten Sehenswuerdigkeiten hier ist eine Stele mit quadratischem Grundriss (allein das ist schon bemerkenswert), auf der, wenn ich mich recht erinnere, ein kaiserliches Gebot in vier Sprachen niedergeschrieben ist. Chinesisch, tibetisch, mongolisch - aber was war die vierte Sprache? Uigurisch? Es gibt der Stelen sogar zwei, eine steht draussen unter einem Schutzdach, die andere in einem Gebaeude.

Bald darauf erreichen wir den Eingang des Pusa Ding (wie gesagt, wir besichtigen verkehrt herum) mit dem Ehrenbogen davor, und nun steigen wir wieder 108 Stufen hinunter. Es ist wie verhext: schon gestern am Longquan Si habe ich sowohl beim Hinauf- wie beim Heruntergehen 109 Stufen gezaehlt, und hier schon wieder! Am Fuss dieser Treppe steht ein grosses "Fo" (Buddha) an die Wand geschrieben, und es herrscht ein grosses Gedraenge. Wenn man hier die "Unterlaenge" des Schriftzeichens beruehrt, kann einem das irgendetwas Gutes bescheren - eine Gelegenheit, die sich viele Besucher nicht entgehen lassen wollen.

Alsbald betreten wir das Xiantong Si. Rechts und links des Eingangs stehen die Drachen- und Tigerstelen, die das Zeichen long (Drache) und hu (Tiger) respektive in besonders schwung- und kraftvoller Kalligraphie zeigen. Ja, was gibt es hier Besonderes? Zwei Gebaeude aus ungewoehnlichen Materialien. Da ist zunaechst ein zweistoeckiger, massiver rundbogiger Steinbau, der grob betrachtet auch als romanische Basilika durchgehen koennte. In drei Abschnitten sitzen drei grosse Buddhafiguren. Das ist mal ein ganz anderer Eindruck mit dem hohen Steingewoelbe!

Oberhalb dieses grossen Steinbaus befindet sich ein kleiner Bronzetempel mit quadratischem Grundriss, der weniger wie ein Gebaeude, mehr wie ein etwas zu grosses Reliquiar wirkt. Er ist vergoldet, hat einen Fussboden aus gruenem Edelstein (sieht jedenfalls sehr edel aus, auch wenn es vielleicht nur polierter Serpentinit ist) und birgt tausend oder zehntausend kleine Buddhas, die die Waende ueber und ueber bedecken. Mit mehreren kleinen vergoldeten Pagoden, dem weissen Marmorsockel und den zwei kleinen weiss gestrichenen Hallen rechts und links wird ein Eindruck exquisiter Kostbarkeit erzeugt.

Hatte ich eigentlich schon berichtet, warum der Wutaishan dem Manjushri gewidmet ist? Das liegt daran, dass just hier ein indischer Moench in einer Vision ebendiesem Manjushri begegnete. Und weil der im tibetischen und mongolischen Buddhismus eine besonders wichtige Rolle spielt, kamen dann im Verlauf der Zeit besonders viele Pilger aus diesen Gegenden der Welt, weshalb es hier (weit weg von Tibet, aber immerhin nahe der Mongolei, an die Shanxi im Norden angrenzt) Lama-Kloester gibt. Am besten kann man die tibetischen Einfluesse im naechsten Tempel sehen, dem Tayuan Si. Das ist derjenige, der die besagte weisse Dagoba beherbergt. Am Eingang liegen mehrere Bretter am Boden, auf denen "Sich-Hinwerf-Anbetung" betrieben wird: aus dem Stand auf die Knie (es gibt ein Kniekissen), sich lang ausstrecken (es gibt zwei kleine Handkissen, mit denen es sich auf dem glatten Brett leicht nach vorn rutschen laesst), Stirn auf den Boden, die Haende erst lang nach vorn ausstrecken, dann ueber dem Kopf falten - und zurueck in den Stand. Ich weiss nicht, wie oft man sich so niederwerfen muss oder soll; jedenfalls sieht man sowohl Laien als auch Moenche bei dieser Taetigkeit.

In der ersten Halle bereitet sich ein alter Moench in einem kardinalsroten Gewand mit weissem Pelzfutter auf den Aufbruch vor. - Hinter der ersten Halle steht die Dagoba. Es gibt an den vier Ecken der Plattform, auf der sie steht, mannshohe Gebetsmuehlen, und ausserdem eine Reihe von normal grossen um die Dagoba herum. Sie werden so fleissig in Bewegung gehalten und drehen sich so schnell, dass man der Griffe (es gibt nur je zwei) nicht habhaft werden kann. Also gibt man nur dem Messingzylinder noch einen weiteren Schwung. - Das naechste Gebaeude ist die Sutra-Aufbewahrungshalle, aber ich kann keine Buecher ausmachen. Die sind wohl fernab vom gemeinen Volk im Obergeschoss untergebracht. Rechts der Sutra-Halle befindet sich noch ein interessanter Raum: der Gebetsraum. Vor dem Eingang steht eine Ansammlung dunkelgelber Moenchsschuhe. Hier hocken zahlreiche Moenche am Boden vor niedrigen Tischen, und zwar in zwei sich gegenueber sitzenden Gruppen. Die meisten haben ein aufgeschlagenes Buch vor sich, und soweit es sich mir erschliesst, liest jeder laut aus seinem Buch vorbei (und nicht den gleichen Text). Das ergibt ein lautes Brouhaha (wie heisst noch gleich das deutsche Wort dafuer?). Ploetzlich schlaegt einer der Moenche einen Gong, woraufhin jeder zu einem Instrument greift, der eins hat, und dann wird kurzzeitig das Woerter-Brouhaha durch ein Toene-Brouhaha ersetzt. Zum Einsatz kommen Alphorn, Kaurimuschel, Klappertroemmelchen, Gong, Becken - zumindest an diese kann ich mich erinnern, vielleicht waren es noch weitere.

Dann haben wir genug gesehen und wollen aufbrechen, zumal Sue wieder in Sorge ist, dass wir das Programm nicht schaffen wuerden. Mittlerweile hat sich der Himmel dunkelgrau bezogen, und nun fallen gar ein paar schmutzige Schneeflocken! Jede einzelne hinterlaesst auf Kleidung und Scheiben einen kleinen Schmutzfleck, wohl weil sie auf ihrem Weg zur Erde Partikel aus dem Rauch der Kohleoefen aufsammelt.

Eigentlich steht noch der/die/das Dailuo Ding auf dem Programm. Das ist der Tempel fuer die bequeme Pilgerreise. Ein chinesischer Buddhist soll naemlich moeglichst in seinem Leben einmal die grosse Pilgerreise zum Wutaishan machen. Die beinhaltet, dass man jeden der fuenf Gipfel (Nord, Sued, West, Ost, Haupt) besuchen muss. Das ist natuerlich beschwerlich und langwierig, denn wie gesagt ist dieses Massiv ein ernstzunehmendes Gebirge, und wenn man sich noch in Erinnerung ruft, dass der Nordgipfel mit ueber 3000 Metern Hoehe frueher ganzjaehrig eine Schneemuetze trug, kann man sich das Ausmass des Unterfangens vor Augen fuehren. Auch einer der Kaiser hatte es auf mehreren Reisen zum Wutaishan nie geschafft, alle Gipfel zu bezwingen. Daher kam er auf die Idee, Dailuo Ding zu bauen. Hier brauchte man nur eine Spitze zu erklimmen, und oben waren fuenf heilige Buddhas aufgestellt, fuer jeden Gipfel einer. Und das Schoene: "das gildet auch"! Das ist dann zwar nicht die grosse Pilgerreise, sondern die bequeme, aber sie verspricht den Eiligen oder Unsportlicheren dieselben Resultate. Ja, so sind sie, die Chinesen …! ;-)) Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb Dailuo Ding auch auf unserem Reiseplan stand - aber mit den aktuellen Wetterbedingungen bekraeftigen wir die Entscheidung, es auszulassen. Wir haben ja noch die Fahrt nach Datong vor uns und unterwegs den Besuch des haengenden Klosters, das ein absolutes Muss ist. Ich meine zwar, dass wir beides haetten bequem schaffen koennen, aber sei's drum: die Tempel hier auf dem Wutaishan haben mich sowieso nicht vom Hocker gerissen. Alles ziemlich voll, was die Stimmung schon mal leicht ins Profane kippen lassen kann. Also ist jetzt sofort Abfahrt. Zwar gaebe es hier noch ein paar ordentliche Restaurants und unterwegs keine, aber halb zwoelf ist definitiv zu frueh zum Mittagessen. Nun geht es also ueber den ziemlich kahlen Nordberg - da ist von herbstlicher Farbenpracht wirklich nichts zu sehen, und das liegt nicht nur am Grau des Himmels. Hier ist einfach kein buntes Laub!

Jenseits des Berges halten wir in einem oeden Ort und essen eine Schuessel Nudelsuppe bzw. Suppennudeln. Das muss reichen. Dann geht es weiter durchs Gebirg' und durch die Ebene. An einigen Stellen sieht man zwar Terrassen, aber insgesamt wirkt die Landschaft recht kahl und oede und auch eher duenn besiedelt. - Kurz nach zwei Uhr legen wir noch einen Zwischenstopp an der Yingxianmuta ein, einer fuenfstoeckigen, fast tausend Jahre alten Holzpagode. Sie wurde 1056 in der Liao-Dynastie gebaut, ist 67 Meter hoch und wiegt ueber 7000 Tonnen. Es gibt den Ausdruck "ein Wald fuer eine Pagode", sagt Sue. Aus einem mir nicht ganz erklaerlichen Grund wird diese Pagode mit dem Eiffelturm und dem schiefen Turm von Pisa zu einer Gruppe der "drei schoensten Tuerme der Welt" zusammengefasst. Meinetwegen.

Der Wind pfeift allerdings sehr stark und ist eisig. Wegen des Windes darf man nur in den zweiten Stock (das erste Obergeschoss), normalerweise kann auch der dritte Stock besichtigt werden. Da die Treppe zwar nicht sehr hell, aber breit und luftig (um nicht zu sagen: zugig) ist und ein Gelaender hat, bleibe ich trotz der alten Planken von Pagodaphobie verschont. Im Erdgeschoss befindet sich eine elf Meter hohe Statue eines goldenen Sakyamuni; die Waende sind bemalt. Oben sitzen ein Buddha und vier Bodhisattvas jeder auf seiner Lotusbluete. Der Ausblick laesst uns rundherum ins flache Land schauen; es ist, als gaebe es weit und breit keinen Berg. - Die Tempelhallen hinter dem alten Turm sind nicht der Rede wert; jenseits dieser kleineren Gebaeude steht eine grosse, brandneue Halle, die offenbar noch geschlossen ist. Vermutlich ist der Aussenbau jetzt fertig, aber die Innenausstattung noch nicht. Nachdem wir hier etwa eine Dreiviertelstunde verbracht haben, geht die Fahrt weiter zum Xuankong Si, dem haengenden Tempel. Unterwegs saeumen Blumenfelder die Strasse: orangefarbene Blueten leuchten noch auf schon vertrockneten braunen Stengeln. Was das wohl ist? Astern? Strohblumen? Im Vorbeifahren koennen wir das nicht ausmachen.

Der haengende Tempel liegt - oder eben haengt - gut 60 km suedoestlich von Datong an einer Felswand gegenueber dem heiligen Berg Hengshan. Zunaechst hatte man wohl im Tal gebaut, aber der Drachenfluss dort hat die Gebaeude immer wieder weggerissen. Vor 1500 Jahren, in der Zeit der noerdlichen Wei, begann man also, das Kloster in die Felswand zu haengen. Dazu wurden Tragbalken ins Gestein getrieben und mit einer Art Duebeltechnik fest verankert. Zusaetzlich stuetzen vergleichsweise duenne Balken die Gebaeude. Sue erklaert, dass sie das nur bei Bedarf tun, wenn naemlich viele Menschen darin sind - unter normalen Umstaenden wuerden die waagerechten Tragbalken ihr Werk allein tun. Der Tempel ist klein: zehn Raeume gebe es, sagt der Reisefuehrer, in denen etwa 80 Statuen aus verschiedenen Materialien untergebracht seien. Die Feldwand ist hinten ein bisschen ausgehoehlt, und davor sind halbe Holzgebaeude gesetzt worden. Die Besucher werden auf einer "Einbahnstrasse" hindurchgeschleust, und ich verliere in den schmalen Gaengen (an einigen kommt Burkhard mit dem dicken Fotorucksack nur gerade noch so durch) und Treppen und leitersteilen Stiegen schon sofort das Gefuehl dafuer, in welchem Teil ich mich befinde, obwohl man nie in Innenraeumen geht, sondern immer nur "auf dem Balkon". Neben dem Eingangsbereich, der auf einem Sockel von roten Ziegeln steht, gibt es zwei dreigeschossige Gebaeudeteile und dazwischen einen Gang mit einem kleineren Gebaeude. - Die Statuen machen auf mich keinen besonderen Eindruck; erwaehnenswert ist vor allem, dass diese heilige Staette "eine fuer alle" ist: in der Sanjiao-"Halle" (Kammer!), also der Halle der drei Religionen, sitzen friedlich vereint Laozi, der Begruender des Daoismus, Buddha und Konfuzius. - Unten im Tal prangen auf einem riesigen Felsbrocken die zwei Zeichen zhangguan, grossartig, was ein "Zitat" des beruehmten Tang-Dichters Li Bai sein soll. Der scheint ja viel im Lande herumgereist zu sein, wir erinnern uns an die Jadeperlen am blauen Band (oder so aehnlich), mit denen er die Landschaft am Li-Fluss zwischen Guilin und Yangshuo verglichen hat. Das ist jedenfalls typisch chinesisch: die Schoenheit des Ortes wird mit einer Kalligraphie betont und ueberhoeht.

Dann beginnt die letzte Etappe nach Datong. Hier in der Drachenflussschlucht waehnen wir die Sonne schon untergegangen - als wir aus der Schlucht herausfahren, geht sie wieder auf. Aber sie steht schon nicht mehr sehr weit ueber dem Horizont, und irgendwann zwischen halb und viertel vor sechs ist sie schliesslich doch hinter den Bergen in der Ferne verschwunden. In der Daemmerung erreichen wir eine Kreuzung, an der der Fahrer wohl normalerweise geradeaus gefahren waere - aber das geht jetzt nicht. Hm. Da heisst es sich durchfragen, denn kein einziges Schild weist den Weg. Schliesslich kommen wir aber doch in Datong an, mit 3 Millionen Einwohnern die zweitgroesste Stadt in Shanxi nach der Hauptstadt Taiyuan.

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