Jaja, ich weiß, manche/r hätte gern mehr Fotos aus Shanghai und von unterwegs gesehen ... insgesamt sind in den vergangenen dreieinhalb Jahren ca. 45.000 Stück entstanden. Aber das hat man eben nur zum Teil meiner Faulheit zu verdanken - zu einem mindestens genau so großen Teil der chinesischen Regierung mit ihrer "great firewall". Hoch lebe das freie Internet!


Wer weiterhin meine Bemerkungen über Gott und die Welt lesen möchte, klickt bitte hier:
Das neue Jahr des Schweins

Wenn ich es schaffe, gibt es hier übrigens auch noch Updates, und zwar aus den bisher unveröffentlichten Reisetagebuchnotizen.

Samstag, 31. Oktober 2009

Mittwoch, 21. Oktober 2009: Beijing zweite Wahl - Tour der Religionen

So ein Mist! Heute lieg' ich flach, das Fruehstueck gestern war doch wohl sehr unkoscher. Ich werde mit Wasser, Schokolade und Bananen ausgestattet, und Burkhard besichtigt alles das, was nicht sooo wichtig ist. Den ersten Rundgang im Central Business District macht er schon vor der Schokoladen-Bananen-Einkaufstour im benachbarten Walmart. In Beijings Bueroturmviertel ragen die Glaspalaeste einer hoeher als der andere in den heute sogar hier blauen Himmel. Aber nicht hoeher als 330 Meter, das ist die Grenze hier wegen des Weltkulturerbe-Status der Verbotenen Stadt! In schoenstem Morgenlicht hat Burkhard schoene Architekturfotos gemacht. Danach faehrt er zur St Joseph's Church, einer katholischen Kirche, wohl der aeltesten hier. Der aktuelle Bau stammt zwar nur von 1905, aber Vorgaengerbauten gab es schon seit etwa 1650.

Der naechste Programmpunkt ist ein Bummel ueber die Wangfujing Dajie, an der die grossen Einkaufspalaeste liegen. Ich bekomme das kurz als "die Nanjing Lu von Beijing" beschrieben und weiss Bescheid. Eine riesenhafte Darstellung des bekanntlich nicht kleinen Yao Ming, des beruehmten Shanghaier Basketball-Spielers, wirbt fuer die Artikel eines Sportausstatters.

Weil der Weg am Platz des Himmlischen Friedens vorbeifuehrt und das Licht gut ist, macht Burkhard auch hier schon mal ein paar Fotos. Eigentlich steht jetzt der aelteste Tempel Beijings auf dem Programm, der buddhistische FaYuan Si. Der ist urspruenglich den Soldaten gewidmet gewesen, die auf Expeditionen zu den Staemmen im Norden ums Leben kamen. Von diesen Tatsachen mal abgesehen, ist es eher ein Tempel wie jeder andere.

Dann gibt es einen interessanten Programmpunkt: die NiuJie-Moschee, die einem wie die grosse Moschee in Xi'an recht chinesisch vorkommt. Der Muezzin ruft hier auf dem Hof zum Gebet, obwohl er doch auch auf einen als Minarett deklarierten zweistoeckigen chinesischen Pavillon steigen koennte. Diese aelteste und groesste Moschee Beijings geht auf das 10. Jahrhundert zurueck und wird noch heute vor allem von Angehoerigen der Hui-Minderheit besucht. Aussen Hui, innen auch Hui. Auch unser Fahrer gehoert dieser Bevoelkerungsgruppe an, laesst das aber nicht "'raushaengen".

Das naechste Ziel ist der BaiYun Guan, der Tempel der weissen Wolke und Sitz des chinesischen Daoistenverbands. Auch er blickt auf eine lange Geschichte zurueck: Seit 739 gibt es hier einen Tempel, der mehrfach abgebrannt ist und wiederaufgebaut wurde. Die heutigen Gebaeude stammen aus der Ming- und Qing-Zeit.

Der Miao Ying Si ist der letzte Tempel fuer heute. Die im Reisefuehrer erwaehnte 51 Meter hohe weisse tibetische Dagoba uebersieht Burkhard aber, so dass nun Zweifel aufkommen, ob er wirklich da war. Vielleicht war das der GuangJi-Tempel??

Danach ist Burkhard noch einmal zur Sankt-Josefs-Kirche gefahren, um deren Westfassade im Licht sehen zu koennen, und dann gab es Essen. Nach dem Essen war blaue Stunde an der Wangfujing Dajie angesagt, und dann hiess es ein Taxi angeln. 15 Minuten fuers Angeln und 50 Minuten fuer 7 Kilometer - dann war er um viertel nach sieben zurueck im Hotel.

Ich sehe mir abends die Fotos an - na gut, einiges haette ich auch gern gesehen, aber sooo schlimm ist es nicht, dass ich es verpasst habe. Trotz eifrigen Bloggens (o.k., am Vormittag bin ich noch einige Male eingeschlafen, aber am Nachmittag habe ich relativ konsequent geschrieben) ist es mir nicht gelungen, den Rueckstand komplett aufzuholen - ich konnte ihn nur auf knapp zwei Tage verkleinern.

Dienstag, 20. Oktober 2009: Badaling-Ming-Jing

Heute sollten wir um 7:15 Uhr auschecken, damit wir um 7:30 Uhr abfahren koennten … eigentlich wollte Sue ja, dass wir um 7 Uhr abfahren. So musste ich mich beim Fruehstueck schon hetzen, denn das gab es erst ab 6:30 Uhr. Wir waren denn auch die ersten da. Das Buffet ist hier in der Lobby angerichtet, und zwar unter einer leicht grotesken Riesendekoration mit einer Styropor-GuanYin und allerhand Sachen, die ich kaum visuell auseinanderklamuesert bekomme. Eins scheint ein riesiges Huhn zu sein, was ich komisch finde, denn wir haben ja nicht das Jahr des Huhns, sondern des Rinds (und ich natuerlich permanent das Jahr des Schweins). Ich mache Burkhard gegenueber eine Bemerkung darueber. Was fuer ein Huhn? Das ist doch ein Phoenix!

Um 7:20 Uhr waren wir jedenfalls ausgecheckt, aber der Fahrer und Sue trudelten dann doch erst um kurz vor halb ein - das hab' ich schon gerne. Die Idee war, uns gegen elf in Badaling der Fuehrerin fuer Beijing zu ueberantworten. Um 10:40 Uhr waren wir dann auch schon in der Naehe, aber unser Fahrer hat die Ausfahrt verpasst, und die naechste war auch gesperrt. Grrr! Mittlerweile bemerke ich auch, dass irgendwas am Fruehstueck nicht "koscher" war. Gut, dass ich den Bewertungsbogen schon vorher ausgefuellt hatte, sonst haette es fuer das Fruehstueck im Hotel und fuer den letzten Transfer schlechte Bewertungen gegeben. - Schliesslich haben wir um 11:40 Uhr das neue Team ausgemacht. Ab sofort sind wir nicht mehr im Minibus unterwegs, sondern mit einem normalen PKW. Ivy heisst die etwas (wind-)pockennarbige Fuehrerin, und da sie im Zeichen der Ratte geboren ist, muss sie wohl 25 sein. Schau'n mer mal, wie die sich macht.

Nun stehen wir also mitten im Rummel von Badaling, der klassischen Stelle, um die grosse Mauer zu besichtigen. Der Himmel ist blau und der Wind blaest heftig, aber laengst nicht so kalt wie am Wutaishan. Wie nun am schnellsten hinauf- und wieder herunterkommen? Wir beschliessen, dass die Kabinenbahn das Mittel der Wahl sei. Auf dem Hinweg ist sie auch flott. Allerdings durchzuckt mich kurz nach dem Einsteigen ein heftiger, unerklaerlicher Schmerz am Unterkiefer. Burkhard meint, er habe etwas Gelbes zu Boden fallen sehen, aber der Uebeltaeter kann nicht mehr ausgemacht werden. Offenbar ein Insektenstich, den ich immer noch spuere. Hm. Heute scheint nicht mein Tag zu sein.

Die Schlange, die wir bei unserer Ankunft oben fuer die Rueckfahrt sehen, sieht nicht ermutigend aus. Ooch, das wuerde nur 20 Minuten dauern, meint Ivy - und zu Fuss vom achten zum ersten Wachtturm gehen, wo sich der Ausgang befindet, wuerde 40-60 Minuten in Anspruch nehmen. Aber erst wollen wir ja mal besichtigen. Der achte Wachturm ist hier der hoechstgelegene, und mit den Massen waelzen wir uns auch hinauf. Auf dem ersten Stueck sind keine Treppen, und man nimmt eine seltsame Schieflage ein. Wenigstens hilft uns der Wind ein bisschen und schiebt. Am Wachturm, an dem man dann nicht weiter kommt (und den man nicht einmal besteigen kann), geraten wir in die grosse Heldenfotografie. Man sei naemlich kein Held, solange man noch nicht die grosse Mauer bestiegen habe. Wir sind Helden. Ab sofort.

Badaling hat seinen Namen davon, dass man hier in acht (= ba) Himmelsrichtungen (die Klassiker und Nordost, Suedost etc.) gehen kann, so jedenfalls habe ich Ivys Erklaerung verstanden. Gefuehlt die meisten Richtungen liegen jetzt im Gegenlicht, und das bunte Herbstlaub ist auch nur noch fleckenweise vorhanden, meist hat es schon dem Silbergrau kahler Aeste Platz gemacht. Und so richtig ueberraschend ist der Anblick der Mauer ja nun auch nicht mehr, hat doch jede/r schon dutzendweise Bilder gesehen, wie sich das Ziegelsteinband "wie ein Drachen" ueber die Berggrate schlaengelt. Jaja, es ist schon toll - aber als Hoehepunkt kann es hoechstens im Hinblick auf die Meter ueber NN gelten.

Wir haben das Gefuehl, ein bisschen in Eile zu sein. Heute wollen wir ja noch die Ming-Graeber sehen! Deshalb stellen wir uns jetzt gleich in der Schlange an und warten in einem dunklen, zugigen "Schlangentunnel" etwa 45 Minuten - na, da waeren wir besser zu Fuss gegangen! Wenn man Chinesen schon glaubt … Die Gondel schwankt doch schon relativ heftig im Wind, aber wir kommen heil und sicher unten an. Unser Fahrer wartet schon direkt am Ausgang auf uns. Wir beschliessen, das Mittagessen ausfallen zu lassen, so dass es gleich zum Berg der himmlischen Langlebigkeit, tianshou shan, losgeht. Der bildet die "Rueckseite" des Tals, das sich die Ming-Kaiser fuer ihre letzten Ruhestaetten ausgesucht haben. Hier liegen 13 der 16 Sproesslinge der Ming-Dynastie. Der erste liegt in Nanjing, weil das zu seiner Zeit noch die Reichshauptstadt war. Der zweite ist an einem unbekannten Ort begraben, da gab es irgendwelche schwarzen Flecken auf der ansonsten makellos gelben Weste des Kaiserhauses. Und auch mit dem verflixten siebten gab es Familienstreitigkeiten - alle anderen haben hier in diesem sich hufeisenfoermig nach Sueden oeffnenden Tal ihre letzte aufwaendige Ruhestaette gefunden, mitsamt ihren Frauen, Nebenfrauen und (ausgewaehlten) Konkubinen.

Wir fahren gleich an der ganzen Folge der Tore und Prozessionswege vorbei schnurstracks zum Chang Ling, dem Grab des YongLe-Kaisers (das war der, in dessen Regierungszeit Zheng He auf seine beruehmten grossen Fahrten ging). Das ist das aelteste und groesste Grab, und eines der wenigen renovierten. Allerdings kann man nur die oberirdischen Gebaeude besichtigen. Nach dem ersten grossen und breiten Tor kommt man, o Wunder, in den ersten Hof. Rechts und links stehen grosse Kacheloefen, die aber nicht mit einer kuscheligen Ofenbank versehen sind. Hier konnten Opfergaben (sozusagen Ofengaben) verbrannt werden. Dann geht es durch das zweite Tor, o Wunder, in den zweiten Hof. Nun blickt man auf die Ling'en Dian, die ziemlich grosse und hohe Halle der Gnade, die auf einer dreifachen Terrasse steht. Frueher diente sie dazu, Opfer darzubringen, heute ist es eine Ausstellungshalle. Ihr Dach wird von riesigen Edelholzsaeulen aus "nanmu", also woertlich Suedholz, getragen. Ich habe bisher noch nicht ergruendet, ob nanmu nun Sandelholz ist oder Zedernholz oder keins von beiden. Jedenfalls sind diese massiven Edelholzstaemme damals ueber 4000 km aus Yunnan herbeigeschafft worden.

Nach dieser Haupthalle betritt man den dritten Hof, in dem der Prozessionsweg durch ein Tor fuehrt, das sozusagen den Eingang in die jenseitige Welt bildet. Dahinter steht noch ein Altar mit den "fuenf Opfergaben" (zwei Vasen, zwei Kerzenstaender, ein Raeuchergefaess), und dann betritt man den Geisterturm, der den Eingang zur Grabkammer markiert. Die Mauern rechts und links, die Teil der rechteckigen Umfriedung sind, schliessen hier vorn an die runde Mauer an, die den ziemlich riesigen Tumulus umgibt, einen grossen bewaldeten kuenstlichen Huegel. Zum ca. 768sten Mal erfahren wir, dass in der alten chinesischen Weltanschauung rechteckig oder quadratisch fuer das Irdische steht, rund aber fuer das Himmlische. Vom Obergeschoss des Geisterturms, in dem eine grosse Stele steht, kann man ganz schoen ueber die Baumwipfel ins Tal schauen und hier und dort weitere Gnadenhallen- und Geisterturmdaecher aus dem Gruen herauslugen sehen. - Der Weg in die Unterwelt ist hier nicht frei, also machen wir uns auf den Rueckweg. Ich gehe zurueck durch das Geisterwelt-Tor, ohne mir die Kleider abzuklopfen (es koennten Geisterfetzen daran haften) und ohne laut zu rufen, dass ich nun in die Welt zurueckkomme. Chinesen tun das, vor allem, wenn ihr Fremdenfuehrer ihnen diese alten Verhaltensweisen nahelegt. Bruellen ist ja immer beliebt! ;-))

Vom Chang Ling fahren wir ein paar hundert Meter zum Ding Ling, dem Grab des Wanli-Kaisers, der einer der letzten Ming-Sproesslinge war (Regierungszeit 1573-1620, waehrend die YongLe-Zeit von 1403-1424 dauerte). Die oberirdischen Anlagen aehneln denen im Chang Ling, jedenfalls soweit sie noch vorhanden sind: von mehreren Bauwerken sind nur mehr die Fundamente sichtbar. Hier geht man aber wegen des unterirdischen "Palastes" hin, denn dieses Grab ist das einzige hier, das bislang geoeffnet wurde. Man wird aber nicht ueber den urspruenglichen Weg hineingefuehrt, sondern steigt ueber oede Waschbetontreppen in die Tiefe - etwa 27 Meter, also irgendetwas wie das achte Untergeschoss. Man kommt, etwas abwegig, am hinteren Ende der rechten Seitenkammer an. Der Palast besteht aus fuenf langen, vergleichsweise schmalen Raeumen, die in relativ grosser Hoehe mit Tonnengewoelben ueberspannt sind: zwei Vorraeume und zwei Seitenkammern in Laengsrichtung und die Hauptkammer als Querriegel. Darin waren der Kaiser, seine Kaiserin und die erste Nebenfrau beigesetzt. Heute stehen dort rotlackierte Riesensargkisten und 26 kleinere Kisten mit Traggriffen, alles Platzhalter fuer die Saerge bzw. die Grabbeigaben, von denen ein groesserer Teil in der Ausstellung in der Ling'en-Halle im Grab des Yongle-Kaisers gezeigt wird. - Im Vorraum stehen drei Throne, einer fuer jeden Toten. Vor jedem Thron steht eine grosse Porzellanvase. Die seien mit Oel gefuellt gewesen; man habe diese als Oellampen genutzt, als man den unterirdischen Palast verschlossen habe, um den Sauerstoff loszuwerden. - Die Raeume selbst wirken wie aus grauem Beton, Ivy sagt aber, das sei alles original. Sie sind weitgehend schmucklos, nur die Tore sind ein wenig verziert, teilweise mit einem Diamantmuster aus Ziegelzickzack. Offenbar kannten die Mings noch keinen horror vacui. Bemerkenswert sind noch die Torfluegel: massiver weisser Marmor, die neun mal neun kaiserlichen Tuerknoepfe gleich angearbeitet, ebenso der Loewenkopf mit dem Tuerring. Gross und breit und ziemlich schwer, aber dafuer wohl mit einem guten Mechanismus ausgestattet, der dafuer sorgt, dass sie sich ganz leichtgaengig oeffnen lassen. Wenn ich es richtig verstanden habe, schwingen sie um eine Drehachse, die gewissermassen ein "Kugellager" hat: ein halbkugelfoermiges Ende, das sich in einer halbkugelfoermigen Vertiefung bewegt. Jetzt schwingt hier natuerlich gar nichts: die Tore stehen offen und sind durch Glasplatten vor den Patschefingern des gemeinen Besuchervolks geschuetzt. Der fruehere Eingang ist jetzt der Ausgang, und wir finden uns unter dem Geisterturm wieder.

Jetzt wollen wir unbedingt noch die Allee mit den steinernen Waechterfiguren sehen und begehen, den Seelenweg (shen dao). Wir gehen natuerlich jetzt falsch herum, weil wir vom Grab kommen - sei's drum. Beginnend am Drachen- und Phoenixtor (ja, stellt Euch vor: der Drache symbolisiert den Kaiser und der Phoenix die Kaiserin, das ist ja das Allerneueste!) schreiten wir auf einem von Weiden schoen gesaeumten Weg im sonnigen Spaetnachmittagslicht entlang. Schoene Stimmung hier, und es ist auch nicht allzu voll. Paarweise gegenueber stehen sich zuerst die Tiere: Loewe, Xiezhi (ein mythisches Einhorn), Kamel, Elefant, Qilin (sprich: tschilin) und Pferd, dann sechs militaerische und zivile Beamte (das ist die richtige Reihenfolge, nicht die, in der wir gehen). Von den Tieren gibt es je vier, ein sitzendes Paar (hat Pause) und ein stehendes (haelt Wache). Jeden Tag um Mitternacht ist Wachabloesung. Das waer's ueberhaupt: Ueber Nacht die sitzenden und stehenden Paare vertauschen …

Auf dem Prozessionsweg liegen dann noch der Stelenpavillon, das grosse rote Tor und das marmorne Ehrentor, welches den Anfang des ueber 7 Kilometer langen Weges markiert. Wenn man bedenkt, dass die Kaiser sonst ueberall hingetragen wurden, sei es von ihrem Pferd oder von ihren Saenftentraegern, wird so erst klar, was es bedeutete, dass selbst sie spaetestens ab dem grossen roten Tor zu Fuss gehen mussten … und das mindestens einmal im Jahr, bei Bedarf oefter, wenn es hiess, die Ahnen zu verehren und um Hilfe zu bitten. So eine Strapaze aber auch!

Fuer uns sind die Strapazen jetzt fuer heute zu Ende, wir brauchen nur noch etwas Geduld fuer den Verkehr in Beijing. Es sind zwar nur knapp 50 km, aber es dauert … Am Ende kommen wir aber doch heil am Hotel an. Wir wohnen hier im Sofitel im CBD, dem Central Business District. Ganz in der Naehe der Brandruine des neuen CCTV-Gebaeudes, das bei den letzten Neujahrsfeierlichkeiten durch fahrlaessigen Umgang mit Feuerwerk spektakulaer abgefackelt war, als es sich eigentlich der Fertigstellung naeherte. Die Brandschutzeinrichtungen waren damals leider noch nicht in Betrieb.

In diesem Hotel sind fuenf Sterne ganz (wohltuend) anders als in Pingyao. Leider kaempfe ich immer noch mit den unkoscheren Elementen des Fruehstuecks, welche bedauerlicherweise im Moment im Vorteil sind. Wir gehen also lieber nirgendwo mehr hin, Burkhard isst einen Snack in der Hotelbar, und dann geht's gleich ins Bett.

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Montag, 19. Oktober 2009: Wolkengrat-Grotten und die Beine von Dolores

Heute ist unser Programm nicht allzu voll, zumal der grosse und sehenswerte Huayan-Tempel nach den Nationalfeiertagsfeierlichkeiten zur Renovierung geschlossen wurde. Von unserem Hotelzimmer im 11. Stock des Yungang International Hotel koennen wir uns schon im ersten Licht des Tages mit eigenen Augen davon ueberzeugen: die ganze Anlage ist eine einzige Baustelle. Die Hoefe sind komplett aufgerissen, die meisten Gebaeude sind eingeruestet, einige Tuerme "skelettiert" - das kann man jetzt wirklich nicht besichtigen. Auf einem der Tuerme soll die neue Turmspitze angebracht werden - die schwebt jetzt am Morgen ein wenig ueber ihrem "Landeplatz" - heute Abend wird sie immer noch dort schweben.

Wir starten also heute erst um neun Uhr. Wir muessen 16 Kilometer hinausfahren, dort liegen die Wolkengrat-Grotten, Yungang Shiku, die den Hauptpunkt fuer heute bilden. Auch auf der Liste des Weltkulturerbes, neben den Grotten von Mogao und Longmen die dritte grosse Ansammlung buddhistischer Hoehlen in China. - Auch auf dieser Seite von Datong sind die Strassen in eine Baustelle verwandelt, wieder muessen Fahrer und Fuehrerin sich durchfragen. Unterwegs kommen wir an Kohleminen vorbei, samt riesigen Wohnblocks, wohl fuer die Bergarbeiter. Schliesslich sehen wir die "durchloecherte" Felswand, in der die buddhistischen Grotten aus der Wei-Dynastie unter den Mauerresten eines alten Forts liegen. Die Flaeche davor ist auch weitgend eine Baustelle. Die irgendwie betonierte Zugangsstrasse wird von Souvenirverkaeuferstaenden gesaeumt. Der Eingang liegt gleich gegenueber den Hoehlen 16-20 (von insgesamt 53, die einfach von Osten nach Westen durchnummeriert sind). Dies sind mit die groessten Hoehlen, vor allem aber die aeltesten. Sie stammen aus den Jahren um 460. In einer jetzt offenen Nische (der Hoehlenvorbau ist irgendwann mal eingestuerzt) sitzt der grosse Buddha und begruesst die Besucher mit einem milden Beinahe-Laecheln. Uns begruesst er in zwar kaltem Wind, aber in voller Sonne und unter blauem Himmel. Vor der Hoehlenwand liegt ein recht breiter Platz, und man kann sich frei bewegen. Klasse! Wir gehen zunaechst nach Osten und bestaunen jede einzelne Grotte. Manche sind so gearbeitet worden, dass innerhalb der Felswand ein Buddha aus dem Stein geschlagen und dann vor ihm Hoehlenraum ausgehoehlt wurde. Nach vorn hin hat man dann ein (tendenziell grosses, meist flach rundbogiges) Fenster und eine (tendenziell relativ kleine) Tuer geoeffnet, fertig ist eine schoen geschuetzte Hoehle. Dabei faellt es dann auch nicht so auf, wenn die Proportionen der Buddhafigur darin etwas missraten sind. Wenn man drinnen steht und ehrfuerchtig hochschaut, merkt man gar nicht, dass der Unterleib stark verkuerzt ist, und wenn man von aussen schaut, faellt es auch nicht auf, weil man sich auf das "Brustbild" im grossen Fenster konzentriert.

Ein anderes Hoehlen-"Modell" ist, vorn zwei oder drei Saeulen stehenzulassen und so eine halboffene Nische zu kreieren. Manche Hoehlen bestehen auch aus zwei, also einer Vorhoelle (sozusagen. ;-)) ) und einer Haupthoehle. Die Themen sind aber durchweg erfreulicher als Hoelle, es geht meist eher um Himmlisches, gern auch mit Musik und Tanz. Eine der Hoehlen wird in jedem Reisefuehrer extra hervorgehoben, weil dort so viele Musikanten mit einer grossen Fuelle von Instrumenten dargestellt sind. Und fuer den Tanz sorgen die Apsaras, die bei Burkhard jetzt unter dem chinesischen Ausdruck "fei lai fei qu" laufen, was eigentlich hin- und herfliegen heisst, aber wohl auch mit umherschwirren uebersetzt werden koennte. Je weiter wir nach Osten kommen, umso bunter werden die Hoehlen. Hoehepunkte sind die Hoehlen 5 und 6, die mit einem halben Gebaeude vor der Felswand versehen sind. In der Vorhoehle wachen grimmige Waechter, in der Haupthoehle 5 sitzt ein grosser Buddha; in der Haupthoehle 6 laecheln Buddhas und Bodhisattvas von den vier Seiten eines massiven Pagodenpfeilers, um den man herumgehen kann. Die Waende und Decken sind ueber und ueber behauen (klingt groeber, als es ist) und bemalt. Die Leute hatten damals wohl auch schon horror vacui. Leider darf man nicht fotografieren, obwohl das Piktogramm nach meiner Ansicht "Fotografieren mit Blitz verboten" besagt. Darueberhinaus sind die Hoehlen nicht gut beleuchtet - dass das Licht sein soll, das den Farben nicht schadet, bezweifle ich, und ausserdem blendet es vielfach. Schade!

Der Bereich noch weiter oestlich (Hoehlen 1-4) ist gesperrt; angeblich sind hier kuerzlich Zacken aus der Krone (der Felswand) gefallen. Hm. Ich sehe ja ein, dass das dann ein Risiko ist; allerdings wuerde ich dann den Bereich so absperren, dass das fuer jedermann ersichtlich ist. Jetzt wird man bloss von einem Uniformierten daran gehindert, durch ein offen stehendes Tor zu gehen. Komisch. Wir wandern also langsam zurueck, erreichen wieder den grossen Buddha aus Hoehle 20 und gehen nun noch nach Westen. Das sind die juengsten Hoehlen, auch nicht mehr besonders spektakulaer. Sie entstanden bis 494 - dann war Schluss, denn die Herrscher haben in diesem Jahr die Hauptstadt von Datong nach Luoyang verlegt und dann begonnen, die Longmen-Grotten zu bauen. Da waren die Yungang-Grotten mit einem Schlag "out".

Apropos Longmen-Grotten: wie dort auch soll frueher mal hier ein Fluss vor den Hoehlen geflossen sein. Einer der alten Kaiser hielt das fuer ein Risiko und ordnete an, den Fluss vierhundert Meter weiter weg zu verlegen. Nichts ist unmoeglich?! Koste es, was es wolle …

Waehrend wir zurueckgehen zum Ein- und Ausgang vor dem Monumentalbuddha, zieht sich der Himmel endgueltig zu. Jetzt sieht es grau aus, und waehrend die Fotografen nicht mehr mit den harten Schlagschatten zu kaempfen haben, hat der Stein auch seine Strahlkraft verloren und wirkt matt. Was haben wir fuer ein Glueck gehabt!

Auf dem Rueckweg legen wir einen Halt an der GuanYin Tang ein. Das ist eine der GuanYin geweihte Tempelhalle aus der Liao-Dynastie. Wenn man ankommt, prangt erst einmal eine mit gelb und gruen glasierten Fliesen geschmueckte Drachenwand. Auf der tempelzugewandten Seite spielen drei Drachen mit zwei Perlen - ob das Streit gibt? Der Tempel besteht im Wesentlichen nur aus einer Halle, rechts und links stehen ein Trommel- und ein Glockenpavillon und hinter der Halle ein weiteres Gebaeude, das jetzt offenbar als eine Art Wohnhaus fuer die "Tempelwaerterfamilie" genutzt wird. Zwei Kettenhunde bellen uns aus, koennen aber nichts ausrichten. Die Halle ist eine Art Schatzkaestlein, so aehnlich wie die Hallen vom Nanchan oder Foguang Si: Um die zentrale Figur der GuanYin herum sind weitere Figuren in verschiedenen Groessen angeordnet. Vor GuanYin vier huebsche weisse halb-lebensgrosse Maedchen mit verschiedenen Haartrachten, wohl aus der Song-Zeit, an den Seiten erschroecklicheres Personal, darunter vier Geister mit je einem zweiten Gesicht. Wirklich schoen fuer so einen kleinen "Beifang" am Wegesrand!

Danach fahren wir in die Stadt zurueck und essen in einem Ketten-Schnellimbiss eine Nudelsuppe. Dazu nehmen wir noch einen Auberginensalat: gar nicht uebel, es ist aber doch verdorri (oder wie schreibt man das?) viel Knoblauch darin. Hhaaccchhhh!

Gleich auf der anderen Seite liegt der Shanhua Si, dessen Vorplatz auch eine einzige Baustelle ist. Wenn man sich da irgendwie durchgemogelt hat, kann man den grossen Tang-zeitlichen Tempel, dessen Eingang eine weitere Drachenwand aus gruen-bunt glasierten Ziegeln vor Geistern schuetzt, ohne weitere Beeintraechtigung betreten. Hier ist alles kaiserlich-majestaetisch gross. Ueber rotbraunen Waenden kann man die typischen Balkenauskragungen der alten Dachkonstruktion bewundern, und in der letzten und groessten Halle meditieren, weniger kaiserlich, aber auch sehr majestaetisch, fuenf grosse Buddhas vor sich hin. Die Waechterfiguren rechts und links tragen ganz klar Adidas-Kampfsportschuhe mit dem typischen Streifenmuster. Und wo wir schon fast beim Thema Beinkleid sind: hier beginnt die bisher mehr schlecht als recht verhohlene Aufmerksamkeit fuer meine nylonbestrumpften Beine (samt dicken Socken und Wanderschuhen) in offene Neugier umzuschlagen. Einem aelteren Herrn genuegt es nicht, dass ich ihm versichere, dass es nicht zu kalt sei. Er muss mal rasch fuehlen. Und eine der Tempelhallenbewacherinnen fuehlt gruendlich vom Knie das ganze Bein herunter. Nein sowas!

Nachdem wir die Besichtigung groesstenteils abgeschlossen haben, kommt sogar die Sonne wieder ein bisschen hervor, und die rotbraunen Waende fangen an, warm zu leuchten. Wir steigen aber wieder ueber den Vorplatz weg und machen uns nun zu Fuss auf zum Trommelturm. Den hatten wir schon im Vorbeifahren gesehen - halt so ein chinesisches Gebaeude mit wohl quadratischem Grundriss, das die Altvorderen in der Absicht aufgestellt haben, den modernen Strassenverkehr zu behindern. Jetzt muessen alle irgendwie drumherum - "drum"-herum, deshalb auch Trommelturm, Gruss aus Kalau! Aus matter Rache wird der Turm daher auch ziemlich stiefmuetterlich behandelt, oder eigentlich nicht einmal: man hat ihn eingezaeunt und straft ihn mit Nichtbeachtung. Das kann man von meinen Beinen nicht sagen - da guckt wirklich jeder und jede hin, als haette man hier noch nie "nackte" Beine gesehen. Ich fuehl' mich wie Dolores! Nur einmal stiehlt mir ein Bus die Show - mit einem Unfall, bei dem man sich fragt, wie er es geschafft hat. Irgendwie muss er mitten in den halbhohen, aber eigentlich gut sichtbaren Drahtzaun eingebogen sein, der hier den Radweg von den Auto-Fahrstreifen trennt. Der ist dann wahrscheinlich hochgerissen worden und hat eine der Scheiben zertruemmert … oder so. Da will man jedenfalls von meinen Beinen nichs mehr wissen.

Bald darauf erreichen wir Jiulong Bi, die Neun-Drachen-Wand, eine weitere Sehenswuerdigkeit, auf die die Leute von Datong wohl sehr stolz sind, denn mit 45 Metern Laenge ist sie etwa anderthalb mal so lang wie das Gegenstueck in der Verbotenen Stadt. Die Hemden der Stadtvaeter sind bestimmt standardmaessig in Brusthoehe etwas weiter geschnitten. - Die Mauer steht im Gegenlicht, aber die Sonne steht auch schon ziemlich tief. Die blonden, bruenetten und schwarzen Drachen auf blaugruenem Fliesengrund spielen aber auch im Spaetnachmittagslicht unbeirrt weiter mit ihren Perlen. Den Wohnsitz eines verdienten Beamten, dessen Eingang die Mauer frueher gegen das Eindringen von Geistern schuetzte, hat die Zeit mittlerweile trotz seiner offensichtlichen Groesse weggefegt.

Abends essen wir Feuertopf im KaiGe FeiNiu HuoGuo - das ist ein super Tipp des Hoteliers. Ein Fahrer des Hotels faehrt uns (theoretisch umsonst) hin. Das Restaurant ist schon gut besucht, wir bekommen trotzdem gleich einen Tisch - den letzten freien auf dieser Seite des Restaurants. Nur dass es keine englische Karte gibt und auch keine englischsprachige Bedienung. Das Aufgeben der Bestellung unter besonderer Beachtung der Herrschaften am Nebentisch ist deshalb ein lustiges kleines Abenteuer. Wir bestellen Schaf- und Rindfleisch, zwei Sorten Tofu (wobei uns der geraeucherte dann nicht besonders zusagt), zwei Sorten fettes Brot, darunter die "Ruesselkuchen" (rund mit zwei Loechern drin: ein Schluesselreiz), Kartoffeln und Pilze und Oktopus. Puh! Zuviel! Viel zuviel! Und dabei haben wir noch nicht einmal Fischbaellchen dabei. Wir trinken einen Krug Sanddornsaft - scheint hier eine Spezialitaet zu sein. Der Sanddorn waechst hier in der Gegend gut und reichlich, auch am Wutaishan hatten wir jede Menge Exemplare stehen sehen, die dick mit den leuchtend orangefarbenen Beeren voll sitzen. - Uebrigens kocht hier jeder sein eigenes Feuertopfsueppchen in einem kleinen, sehr geradlinigen, schweren Edelstahltopf. Der wird einem sozusagen vor die Nase gestellt. Auf eine normale cremefarbene Stofftischdecke, bemerken wir ploetzlich. Und das Feuer fuer den Topf? Kommt hier total innovativ aus Induktionskochplatten! Als wir fertig sind, ist die Tischdecke um den Topf herum gar nicht mehr cremefarben, sondern braeunlich - aber das liegt an den Suppenspritzern. Dabei faellt mir auch auf, dass dies ein hautfreundlicher Ort ist. Waehrend es draussen furchtbar trocken ist und vor allem Lippen, Gesicht und Haende darunter leiden, steigen hier aus unzaehligen Toepfen die Dampfschwaden auf - die Maedels vom Personal brauchen sich keine Sorgen um ihre Hautfeuchtigkeit zu machen. ;-))

Ein Taxi bringt uns zurueck zum Hotel, wo wir in der Bar lieber noch etwas trinken, was hoffentlich bei der Verdauung hilft. Ich bin ja soooo satt! Aber lecker war's.

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Samstag, 17. Oktober 2009: Vier weitere Tempel (die beiden suedlich des Wutaishan)

In aller Herrgottsfruehe sollen wir auschecken, naemlich um 7:30 Uhr, aber hier scheint irgendwo eine natuerliche Grenze zu sein; jedenfalls sind wir 10 Minuten zu spaet. Vielleicht ja auch, weil das Hotel, von seiner allzu trockenen Raumluft abgesehen, recht gut war. Als Sahnehaeubchen gab es zwar nicht standardmaessig, aber immerhin auf Wunsch ein Buchweizenkissen.

Dann heisst es erst einmal fahr'n, fahr'n, fahr'n, aber nicht auf der Autobahn, sondern ueber Land. Eigentlich schade, dass man nicht abends im Dunkeln fahren kann, sondern "mitten" in der Nacht aufstehen muss und, wenn man das schon macht, die schoenen Morgenstunden nicht einmal zum Besichtigen nutzen kann - in Anbetracht der Strassenzustaende hat es andererseits ja auch seine Vorzuege und erhoeht garantiert die Sicherheit. Immerhin erreichen wir gegen zehn Uhr unser erstes Ziel, den Nanchan Si (das scheint so etwas wie "Suedlicher Meditationstempel" zu heissen). Hinter roten Klostermauern sind keine Moenche mehr zugegen; ein alter Mann huetet das Anwesen, nimmt die Eintrittsgelder ein und schliesst uns jetzt die Tuer auf. Schon vorher sehen wir einen archaisch wirkenden stilisierten Pferdekopf auf dem Dachfirst ueber die Mauer gucken. Dann stehen wir im Hof vor der Haupthalle. Auf deren Terrasse liegen Birnen und chinesische Datteln in der Sonne zum Trocknen aus: sie fallen mir als erstes ins Auge. Es sieht nicht so aus, als ob viele Besucher kaemen. Die beiden kleinen "Hallen" rechts und links machen eher den Eindruck von leicht verlotterten Geraeteschuppen - wenn auch unter den Vordaechern oben an den Seitenwaenden noch Reste von Bemalungen zu sehen sind. Die Haupthalle stammt noch aus dem 8. Jahrhundert und ist damit die aelteste noch erhaltene Holzhallenkonstruktion in China. Insgesamt gibt es nur noch vier Tang-zeitliche Hallen aus Holz. Nun schliesst der alte Herr uns das Tor der Halle auf, und es ist, wie wenn man in ein Schatzkaestlein blickt - und zugleich wie ein Blick in einen Schaukasten. Es sieht naemlich nicht so aus, als waere hier Raum fuer Betende; hier stehen auch keine Altaere oder sonstige Gegenstaende, die auf irgendeine Nutzung hindeuten wuerden, wenn man mal von einem Kniekissen und einer Spendenbox absieht, die, so scheint es mir, vor jedem zentral aufgestellten Buddhabildnis automatisch aus dem Boden spriessen. Die Halle scheint ausschliesslich dazu zu dienen, die hier stehenden oder sitzenden ueberlebensgrossen Figuren vor der Witterung zu schuetzen. Es ist wohl nur etwa ein Dutzend, das sich um eine zentrale Buddhafigur gruppiert, darunter zwei Bodhisattvas auf ihren typischen Reittieren: Manjushri, der in China WenShu heisst, links auf seinem Loewen, und rechts einer, dessen Namen ich vergessen habe, auf seinem weissen Elefanten. Weshalb ich mir Manjushri merken konnte? Weil dem der ganze Wutaishan geweiht ist. Er ist der Bodhisattva der Weisheit, der die Dummheit auszurotten versucht. Hm, scheint noch nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein … Die Figuren stammen aus der Tang-Zeit - dafuer finde ich sie aber vergleichsweise schlank. Sie haben weisse Haut und kraeftig-bunte Kleider in Rot, Malachitgruen und kraeftigem Blau (Lapislazuli?). Vorn stehen zwei Lotusblueten - und niemand darauf: die exquisit gearbeiteten kleinen Figuren, die hierauf gestanden haben, sind irgendwann gestohlen worden. Das sei der Grund, weshalb die Besucher jetzt in einem Kaefig stehen. Es ist sogar oben vergittert, worueber ich mich schon gewundert hatte.

Wir koennen uns gar nicht so leicht sattsehen, zumal man alles mit den Augen einsaugen muss: Fotografieren ist aus unbekannten Gruenden verboten. Wir wuerden natuerlich OHNE Blitz fotografieren. - Wenn es dann wenigstens gute Bilder zu kaufen gaebe! Der alte Herr erklaert Sue, dass die Regierung fuer naechstes Jahr ein Fotodokumentationsprojekt plant. Das hilft uns auch nicht. - Ausserdem muss ich dieses Gefuehl noch ein bisschen geniessen, hier etwas ganz Besonderes vor Augen zu haben, das nicht jeder zu sehen bekommt. Hier verfolgt man die Strategie, Leute nicht herzulocken, aber die, die kommen, auch nicht abzuweisen. Im Moment funktioniert das noch.

Ansonsten herrscht jetzt rege Geschaeftigkeit draussen im ersten Hof: Es sind Kohlen angeliefert worden, die nun eingekellert werden muessen. An der Strasse hierher hatten wir schon jede Menge Kohlenverkaufslager gesehen: es gibt grosse Brocken, aber auch diese zylinderfoermigen Briketts mit den Laengsloechern fuer die gleichmaessige Belueftung, die ueberall in China gern von den Besitzern mobiler Imbisswagen genutzt werden. Und natuerlich jede Menge Kohlengebroesel von fein bis grob.

Dann fahren wir wieder ein Stueck. Unser naechstes Ziel ist der FoGuang Si, "dem Buddha (Fo) sein Licht (Guang) sein Tempel (Si)", so die Wortkonstruktion. Die Urspruenge der Anlage stammen aus der Noerdlichen Wei-Dynastie, der Platz blickt somit auf eine mehr als 1500jaehrige Geschichte zurueck. Was wir jetzt sehen, wurde nach einer Zerstoerung im neunten Jahrhundert neu gebaut und ist somit nur wenig juenger als der Nanchan Si, aber viel groesser. Die Anlage schmiegt sich sozusagen mit dem Ruecken an einen steilen Hang, der jetzt in voller Sonne in warmen Herbstfarben unter einem tiefblauen Himmel aufleuchtet. (Oder ist das Buddhas Licht?) Aufgrund dieser Lage verteilen sich die Hoefe und Gebaeude auf drei Ebenen. Unterhalb des Eingangs steht eine einfache "Geisterschutzwand" aus Ziegeln, nach ein paar Stufen und der Himmelskoenigehalle steht man in einem ersten, sehr grossen Hof. Rechts auf dem Hauptweg faellt ein achteckiger Sutra-Pfeiler ins Auge. Daneben hockt ein junger Mann, der hier offenbar mit irgendwelchen Studien beschaeftigt ist, denn vor ihm liegt ein Buch mit detaillierten Architekturzeichnungen dieses Tempels. Sue erklaert mir spaeter, dass vor etwa 100 Jahren ein beruehmtes chinesisches Architekten- und Kuenstlerpaar hierher gekommen sei und die Konstruktion ausgiebig studiert und dokumentiert habe. Wahrscheinlich arbeitet der junge Mann jetzt damit. Sue bekommt mit, wie die aeltere Frau, die vor dem Eingang einige Hand- und Bastelarbeiten zum Verkauf angeboten hatte, dem jungen Mann Mittagessen anbietet. Da will sie ihr mehr Gaeste verschaffen: ob sie nicht uns vier bekochen koenne? Nachdem wir die Idee auch fuer gut befunden haben, stimmen alle Seiten zu, und die Frau trollt sich, um das Essen vorzubereiten. Wir haben jetzt erst noch Zeit zur Besichtigung. Ich steige ein paar Stufen in den zweiten Hof; ungewoehnlicherweise liegt kein Gebaeude dazwischen. Dieser Hof ist ein alter baumbestandener Garten, mit Gras in den Fugen der alten Steinplattenwege, flankiert von zwei Seitengebaeuden. Links waere vielleicht eine Ausstellung, aber die Tueren sind verschlossen. An der Rueckwand des Hofes gibt in der Mitte ein Rundbogen den Blick auf eine schmucklose Wand frei. So scheint es jedenfalls im ersten Augenblick, bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Wand als eine extrem steile Treppe aus Ziegeln. Hierueber gelangt man auf die obere Plattform, auf der die Haupthalle steht, nicht die aelteste Holzkonstruktion aus der Tang-Dynastie (die haben wir ja vorher schon gesehen), aber die groesste. Rechts vor dem Eingang steht ein weiterer Sutra-Pfeiler.

In der Tat ist die Halle riesig (34 x 17.6 Meter). Sie beherbergt fuenf grosse Buddhas und ein ganzes Panoptikum von Dienern, Waechterfiguren, Bodhisattvas und sonstigen Personnagen aus der Tang- und Song-Zeit. Hier sind auch die kleinen dienstbaren Geister (so wirken sie), die auf ihren Lotusblueten knien, nicht gestohlen worden - so muss man sie sich wohl auch im Nanchan Si vorgestellt haben. Es ist auch die Rede von Fresken; ich kann aber keine ausmachen. Vermutlich befinden sie sich an der anderen Seite der Trennwand, vor der die Buddhas sitzen. Auch hier werden die Besucher im Kaefig gehalten. An den Seiten sitzen fast lebensgrosse Arhats, die allerdings "erst" in der Ming-Zeit, also im 14.-17. Jahrhundert, hinzugefuegt wurden. Von den urspruenglich 500 - wie sich das gehoert - sind mit 296 nur noch knapp 60% erhalten. Komisch. Was wohl mit den anderen passiert ist? Denn leere Plaetze kann ich nicht entdecken.

Hinten rechts neben der Halle steht eine kleine weisse Pagode, die den Ahnen gewidmet ist. Sie ist wohl das aelteste Bauwerk der Anlage und damit noch aus der Zeit der Noerdlichen Wei, denn sie hat als einzige die Zerstoerung des urspruenglichen Klosters ueberstanden. Jedenfalls macht sie sich gut hier und strahlt inmitten der Herbstfarben eine fast heitere Stimmung aus. Sie habe einen unverzierten "flammenfoermigen" Eingang, heisst es. Mich erinnert er eher an einen nur ganz leicht oben angespitzten Heiligenschein. - Wir bewundern noch ausgiebig die hoelzerne Dachkonstruktion der Haupthalle. Unter den Ziegeln sieht man ja diese "Balkengewusel", deren Konstruktion fuer einen Laien kaum zu durchschauen ist. Offenbar ist sie etwas beweglich und kann so Anfechtungen wie Sturm und Erdbeben gut aushalten, andererseits natuerlich stark und fest, um ihr eigenes Gewicht gut verteilt tragen zu koennen. Und nun versteht man auch endlich die Tang-zeitlichen Zeichnungen von Dachbalken: hier kann man sie in 3D studieren!

Danach steigen wir wieder die supersteile Treppe hinunter. Auf der mittleren Ebene gibt es rechts in einem Seitenhof einen kleinen Raum, der den Namen "Halle" kaum verdient, in dem aber wohl aktuell Buddha verehrt wird. Davor befindet sich ein Gemuesegarten, in dem eine Art Kohl angebaut wird.

Auf der unteren Ebene gilt es noch die Halle links zu besuchen. Die ist auch ziemlich gross und fast leer, sieht man mal von einem grossen Manjushri alias WenShu ab, der hier auf seinem Loewen sitzt und weiterhin der Dummheit Uebles will. An den Waenden sieht man verblichene Fresken aus der Ming-Zeit. Und wenigstens kann man hier ein Buch mit mehrsprachigem Text und guten Fotos kaufen. Burkhard ist schon sehr frustriert, dass hier ueberall Fotografierverbot herrscht. In dem Buch wird auch erklaert, dass Bilder dieses Klosters in den Wandgemaelden von Dunhuang zu finden sind. Interessant! Und der Stil der kleinen weissen Pagode sei auch so einmalig, dass man Vergleichbares nur in den dortigen Bildern finden koenne.

Der FoGuang-Tempel ist definitiv einer der Hoehepunkte dieser Reise, und der Nanchan-Tempel auch! Nun ist aber Zeit fuer das laendliche Mittagessen. Wir nehmen einen aelteren Herrn die paar Meter im Auto mit - bestimmt hat er nicht oft Gelegenheit, Auto zu fahren. Auf der Zugangsstrasse zu dem kleinen Dorf neben dem Kloster, dass ich vorher gar nicht bemerkt hatte, wird die Ernte sortiert, und einige Eselchen, von denen hier in der Gegend noch viele in Gebrauch sind, duerfen auf einem kleinen grasbewachsenen Stueck Mittagspause machen. Wir gehen durch eine Gasse, in der ein paar Huehner herumlaufen (aha! Huehnchen wird es also schon mal nicht geben!) und uns ein Hund ausbellt. Dann stehen wir in einem Hof, in dem Gemuese und Getreide (Karotten, Rettich, Mais, Sojabohnen) lagern bzw. zum Trocknen ausgebreitet sind. Ausserdem liegt Kartoffelstaerke in dicken Brocken zum Trocknen auf einer Lage Zeitungspapier. Wir werden in die gute Stube gebeten. Der niedrige Tisch wird auf der gemauerten Bettstatt aufgestellt, und wir duerfen im Schneider- oder sonstigem Sitz darum herum Platz nehmen. Es gibt auf jeden Fall reichlich: das Hauptgericht ist eine Schuessel mit breiten glasigen Nudeln und Kartoffeln, dazu gibt es sehr saure Pickles (Pilze??) und ebenfalls leicht saeuerlich angemachten Kohl. Zum Sattwerden kommen dicke gedaempfte Broetchen auf den Tisch und braune, spaghettifoermige Nudeln. Zum Wuerzen gibt es Essig, und bald bringt die Dame des Hauses noch eine Schuessel mit gestampftem rohem Knoblauch. Oha! Auf das heisse Wasser zum Trinken und auf die Moehren zum Nachtisch verzichten wir lieber.

Die gute Stube wird uebrigens vom Bett dominiert. Hart ist das … im Vergleich dazu sind selbst die haertesten Hotelbetten ja noch wolkenweich. Am Kopfende liegt eine nicht sehr dicke Rolle - wenn das die Unterlage ist … ich seh' schon, ich bin wohl total verweichlicht. An einer Wand haengt ein riesiges Poster mit einem gespiegelten Krabbelbaby. Ich erkundige mich, ob das der juengste Spross der Familie sei - nein, nur ein Bild. Immerhin bringt es Farbe in den Raum. Die Familienfotos haengen in einem Rahmen gegenueber vom Bett. Ausserdem gibt es noch zwei oder drei Holzkisten oder halbhohe, aber ziemlich tiefe Schraenke und Mini-Schemelchen, deren Sitzflaeche bestimmt nicht groesser ist als ein DIN A5-Blatt, sowie eine Tischuhr - das war's dann ungefaehr mit dem Mobiliar. Sue erklaert, die Leute seien zufrieden mit ihrem Auskommen: es gebe satt zu essen und sie haetten genug, um sich Kleidung zu kaufen. Man ueberlaesst es uns, den Preis des Essens festzusetzen. Wir zahlen 50 RMB fuer die vier Esser.

Samstag, 17. Oktober 2009: Vier weitere Tempel (die beiden auf dem Wutaishan)

Nach dem Mittagessen fahren wir weiter, jetzt zum "Fuenf-Plattform-Gebirge", dem Wutaishan. Das hat seinen Namen davon, dass die fuenf Hauptberge, die es ausmachen, keine spitzigen Spitzen haben, sondern eher wie rundliche Buckel sind, wenn auch der Nordgipfel mit 3058 Metern Hoehe durchaus ein ernstzunehmender Berg ist. Sue erzaehlt, dass er frueher ganzjaehrig schneebedeckt war - jetzt nicht mehr.

Ganz frueher war der Wutaishan eher eine "Hochburg" der Daoisten, mittlerweile haben die Buddhisten schon laengst Ueberhand genommen. Zuerst steigt die Strasse sanft an, dann beginnen weit gezogene Serpentinen. Wir naehern uns von Sueden, und hier stehen viele Laerchen noch in Maisgelb, was unter dem blauen Himmel sehr schoen aussieht. Finden wir jedenfalls. Sue, die natuerlich weiss, wie es hier im Herbst auszusehen hat, findet, dass der Winter jetzt schon Einzug gehalten hat und der Wutaishan recht kahl aussieht. Vor zwei Wochen war es wohl noch wesentlich bunter.

Wir fahren jetzt auf der "Innenseite" des Gebirges wieder etwas abwaerts, zum Longquan Si, dem Drachenquelltempel. Waehrend seine Urspruenge aus der Song-Zeit stammen (also 10. - 13. Jhdt.), ist das, was wir heute sehen, wohl alles "neu", das heisst aus der spaeteren Qing-Zeit. Das Glanzstueck des Ortes steht draussen vor der Tuer, wo es die Besucher empfaengt, wenn sie die Treppe mit den 108 Stufen bezwungen haben: ein reichstverzierter dreiteiliger Marmorbogen mit detailreichen Drachen, Loewen und Granataepfeln und Rankwerk und kleinen Szenen in Medaillons. - Hier sind zwar viele Besucher, aber besonders viel Atmosphaere ist nicht zu spueren. Alles ist irgendwie reich und praechtig. In einem der Hoefe macht sich als Grabdenkmal fuer einen Moench namens Puji eine dicke Pagode breit, weiss mit einer goldenen Spitze, was vor dem immer noch tiefblauen Himmel natuerlich sehr dekorativ aussieht. Irgendwie ist sie zu gross fuer den Hof, aber in dem am Hang gelegenen Tempel gab es vermutlich keine rechte Alternative, wenn man die Pagode innerhalb bauen wollte und sie nicht auf den Moenchsfriedhof auslagern wollte, der in einiger Entfernung am Hang zu sehen ist: eine Ansammlung kleiner bis mittelgrosser Pagoden.

So, nun haben wir nur noch einen weiteren Tempel vor uns fuer heute, den Suedberg-Tempel: Nanshan Si. (Nicht mit dem Nanchan Si von heute Vormittag verwechseln!) Der Fahrer fragt ein paar alte Maenner nach dem Weg, die auf einer Bruecke sitzen und zigarrengrosse und -dicke Zigaretten rauchen. Die koennen nicht "hasse ma'n Blaettchen?" fragen, wenn sie sich so ein Ding drehen wollen, das kann nur "hasse ma'n Blatt?" heissen! Wer weiss, was fuer Kraut oder Kraeuter das sind …

Dann erreichen wir den Nanshan Si, einen ziemlich grossen Komplex, der (gefuehlt) einen ganzen Berghang einnimmt. Und noch ein Hof, eine Halle, ein Gang, eine Treppe, eine Terrasse, und noch einer. Burkhard ist auf der Suche nach der schoenen Aussicht ins Tal, die einer unserer Reisefuehrer versprochen hatte, kann aber nicht so recht fuendig werden. Unterhalb einer Milefo-Halle liegt eine Terrasse mit schoen reliefierten Mauerplatten, ueber einem Seitenraum ist der Name mal nicht kalligraphiert, sondern aus lackierten Wurzelholzstuecken gestaltet, die auf einem weissen Hintergrund montiert sind, auf den Firsten leuchten goldene Dachaufsaetze in Form dreier uebereinandergesetzter, leicht flachgedrueckter Kugeln in der Abendsonne - das sind die Dinge, die mir hier ins Auge fallen. Die Sonne geht hier schon gegen fuenf Uhr unter, dann wird es gleich kalt. Gegen die Kaelte wurden auch hier heute Kohlen eingelagert. Man konnte sehen, wie vielleicht ein halbes Dutzend Maenner sie im Schweisse ihres Angesichts von der Anlieferebene zu den hoeher gelegenen Gebaeuden brachte. Schleppte. Je nach Gusto mit flachen Koerben an Tragjochen, einem Sack oder einem Plastikkorb (der sah besonders unbequem aus). Viele Treppen hinauf - den Weg konnte man wegen der verlorenen Kohlestuecke und wegen der Kohlenstaubspuren problemlos nachvollziehen. Hm - alle scheinen heute Kohlen einzukellern, unterwegs hatten wir das auch schon einige Male gesehen, und am Nanchan Si heute Morgen ja auch. Sue weiss zu berichten, dass fuer uebermorgen ein Temperatursturz angekuendigt sei.

Nun, da die Sonne ubtergegangen ist, fahren wir zu unserem Hotel. Zum Glueck ist es nicht das neben einer Tankstelle gelegene Petroleum-Hotel - das heisst wirklich so! Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand in einem Hotel dieses Namens einkehren moechte … zumindest keine Langnase. Insofern ist es mir recht, dass fuer uns im WuFeng-Hotel gebucht ist, einer der zahllosen Staetten des Gastgewerbes, die hier mindestens 90% des Ortes auszumachen scheinen.

Das WuFeng-Hotel ("fuenf Gipfel") hatte auch mal fuer jeden Gipfel einen Stern, wie zum Beispiel noch auf den Handtuechern verewigt, die mittlerweile schon keinen Grauschleier mehr haben, sondern eher durch und durch ergraut sind. Auf dem offiziellen Schild an der Rezeption kann man jetzt aber nur noch vier Sterne zaehlen. Das Einchecken dauert lange, aber immerhin hat uns ein Mensch in Polizeiuniform die Koffer getragen. - Das Zimmer ist ziemlich geraeumig, fuehlt sich nur leider etwas kalt an. Eine Pruefung der Sachlage ergibt aber, dass die Heizung froehlich vor sich hin heizt. Na ja - zum Schlafen ist es auch besser, wenn es nicht zu warm ist. Als wir zum Abendessen gehen und nur auf den Korridor treten (nicht nach draussen), merken wir erst, was ungeheizt ist: Brrrr! Ist das kalt! Uebrigens merkt man am Toilettenpapier, dass wir auf dem Land sind: hier gibt es dieses furchtbar zaehe Krepppapier. Nach meiner Ansicht kann man das besser dazu benutzen, Papierroeschen fuer Hochzeitstuerkraenze zu machen - aber weil Chinesen das nicht tun, mussten sie sich eine andere Verwendung einfallen lassen. Soweit meine Theorie. ;-) Und die Englischkenntnisse sorgen fuer eine kleine Bluete der Heiterkeit, oder wie soll ich sagen? Der Tueranhaenger "Bitte nicht stoeren" heisst hier auf Englisch "Do not interrupt!"

Das Abendessen ist auch eine Geschichte fuer sich. Die Fleischgerichte scheinen alle ausgegangen zu sein. Mit Muehe und Not koennen wir mit (oder trotz?) der Bedienung Sellerie mit Walnuessen, gebratenen Tofu und "roast potato" identifizieren: das gebe es noch. Erst kommt der Sellerie; der ist noch recht erwartungskonform. Dann kommen braune Baellchen, bei denen ich spontan nach den bekannten Pillendreher-Kaefern Ausschau halte. Das sieht wirklich aus wie Mistbaellchen - nur dass eine Orchideenbluete zur Dekoration daneben liegt. Hm. Das ist der Tofu. Geschmacklich ist der auch nicht gerade ein Genuss. Essbar, wuerde ich sagen. Und dann kommt ein Teller mit 12 dicken, schrumpeligen Kartoffeln, offenbar aus dem Ofen. Oha! Nun, das sind also Ofenkartoffeln, nur leider gibt es nichts dazu. Keinen Quark, keinen Sauerrahm - eben nichts. Ich frage nach Butter: mei you. Da bleibt uns nichts uebrig, als sie "trocken" zu essen. Mit Getraenken kostet uns dieses sagenhafte Mahl 117 RMB: (allzu) stattlich fuer den Lustgewinn, scheint mir.

Sonntag, 18. Oktober 2009: Vom Wutaishan nach Datong

Ach ja, fruehstuecken im sehr chinesischen Vier-Sterne-Hotel: es gibt keinen Saft, statt Tee nur einen undefinierbaren Blumenaufguss, und spaeter wird noch eine mattgraubraune Fluessigkeit ans Buffet gebracht, von der ich vorsichtshalber nur einen Loeffel voll probiere: aha, ein kaffeegeschmackhaltiges Getraenk. Da muss ich wohl heisse Milch trinken. Das sind die Momente, in denen ich gegen eine unbeschraenkte Expansion von "Schingbacke" an alle auch nur halbwegs zivilisierten Orte absolut nichts einzuwenden habe. Ueber das Essen schweige ich auch lieber, allerdings koennen sie hier ganz leckeres suesses Gebaeck machen.

Abfahrt ist um acht Uhr; fuer den Vormittag stehen die drei wichtigsten Tempel am Wutaishan auf unserem Programm, der Pusa Ding ("Boddhisattva-Spitze"), das Xiantong Si und das Tayuan Si. Sue gestaltet uns den Besuch bequem, aber auch irgendwie verkehrt: wir betreten die Boddhisattva-Spitze, den hoechstgelegenen Tempel, quasi durch die Hintertuer und gehen dann stetig bergab, bis wir alle drei Tempel durchwandert haben. Die verschiedenen Gebaeude und Hallen dieser recht grossen Tempelanlagen bedecken einen ganzen Berg. Halbwegs im Tal liegt eine angeblich 50 Meter hohe weisse Dagoba (im tibetischen Stil, heisst es), die als Wahrzeichen des Ortes taugt: der weisse Turm inmitten roter Mauern sorgt fuer eine recht einmalige Ansicht.

Der/die/das Pusa Ding ist ein kaiserlicher Tempel, mit Drachenmotiven und strahlenden Daechern aus gelb glasierten Ziegeln. Vor der Manjushri-Halle, die hier die Haupthalle ist, sieht man eine loechrige Steinplatte. Sue erzaehlt, dass hier frueher bei jedem Wetter Wasser vom Dach getropft sei (und steter Tropfen hoehlt den Stein eben ueberall auf der Welt - obwohl er ihn hier auch mit Sinter aufgebaut hat), was besonders im Sonnenlicht wunderschoen ausgesehen habe. Und hier braucht man nun gar nicht auf die Klimaveraenderung zu schimpfen: hier ist bloss irgendwann das Dach repariert worden, da hat es sich ausgetropft. Schade eigentlich!

Der naechste Hof birgt einen Raum mit drei riesigen Toepfen, in denen anno dunnemals fuer die zahlreichen Moenche gekocht wurde. Die haben bestimmt 1,5 Meter Durchmesser und sind 1 Meter tief, da passt schon viel Brei und Suppe hinein. Jetzt werfen die Leute Geld hinein - irgendwie scheinen Chinesen noch lieber als andere Nationalitaeten mit Geld herumzuwerfen.

Eine der naechsten Sehenswuerdigkeiten hier ist eine Stele mit quadratischem Grundriss (allein das ist schon bemerkenswert), auf der, wenn ich mich recht erinnere, ein kaiserliches Gebot in vier Sprachen niedergeschrieben ist. Chinesisch, tibetisch, mongolisch - aber was war die vierte Sprache? Uigurisch? Es gibt der Stelen sogar zwei, eine steht draussen unter einem Schutzdach, die andere in einem Gebaeude.

Bald darauf erreichen wir den Eingang des Pusa Ding (wie gesagt, wir besichtigen verkehrt herum) mit dem Ehrenbogen davor, und nun steigen wir wieder 108 Stufen hinunter. Es ist wie verhext: schon gestern am Longquan Si habe ich sowohl beim Hinauf- wie beim Heruntergehen 109 Stufen gezaehlt, und hier schon wieder! Am Fuss dieser Treppe steht ein grosses "Fo" (Buddha) an die Wand geschrieben, und es herrscht ein grosses Gedraenge. Wenn man hier die "Unterlaenge" des Schriftzeichens beruehrt, kann einem das irgendetwas Gutes bescheren - eine Gelegenheit, die sich viele Besucher nicht entgehen lassen wollen.

Alsbald betreten wir das Xiantong Si. Rechts und links des Eingangs stehen die Drachen- und Tigerstelen, die das Zeichen long (Drache) und hu (Tiger) respektive in besonders schwung- und kraftvoller Kalligraphie zeigen. Ja, was gibt es hier Besonderes? Zwei Gebaeude aus ungewoehnlichen Materialien. Da ist zunaechst ein zweistoeckiger, massiver rundbogiger Steinbau, der grob betrachtet auch als romanische Basilika durchgehen koennte. In drei Abschnitten sitzen drei grosse Buddhafiguren. Das ist mal ein ganz anderer Eindruck mit dem hohen Steingewoelbe!

Oberhalb dieses grossen Steinbaus befindet sich ein kleiner Bronzetempel mit quadratischem Grundriss, der weniger wie ein Gebaeude, mehr wie ein etwas zu grosses Reliquiar wirkt. Er ist vergoldet, hat einen Fussboden aus gruenem Edelstein (sieht jedenfalls sehr edel aus, auch wenn es vielleicht nur polierter Serpentinit ist) und birgt tausend oder zehntausend kleine Buddhas, die die Waende ueber und ueber bedecken. Mit mehreren kleinen vergoldeten Pagoden, dem weissen Marmorsockel und den zwei kleinen weiss gestrichenen Hallen rechts und links wird ein Eindruck exquisiter Kostbarkeit erzeugt.

Hatte ich eigentlich schon berichtet, warum der Wutaishan dem Manjushri gewidmet ist? Das liegt daran, dass just hier ein indischer Moench in einer Vision ebendiesem Manjushri begegnete. Und weil der im tibetischen und mongolischen Buddhismus eine besonders wichtige Rolle spielt, kamen dann im Verlauf der Zeit besonders viele Pilger aus diesen Gegenden der Welt, weshalb es hier (weit weg von Tibet, aber immerhin nahe der Mongolei, an die Shanxi im Norden angrenzt) Lama-Kloester gibt. Am besten kann man die tibetischen Einfluesse im naechsten Tempel sehen, dem Tayuan Si. Das ist derjenige, der die besagte weisse Dagoba beherbergt. Am Eingang liegen mehrere Bretter am Boden, auf denen "Sich-Hinwerf-Anbetung" betrieben wird: aus dem Stand auf die Knie (es gibt ein Kniekissen), sich lang ausstrecken (es gibt zwei kleine Handkissen, mit denen es sich auf dem glatten Brett leicht nach vorn rutschen laesst), Stirn auf den Boden, die Haende erst lang nach vorn ausstrecken, dann ueber dem Kopf falten - und zurueck in den Stand. Ich weiss nicht, wie oft man sich so niederwerfen muss oder soll; jedenfalls sieht man sowohl Laien als auch Moenche bei dieser Taetigkeit.

In der ersten Halle bereitet sich ein alter Moench in einem kardinalsroten Gewand mit weissem Pelzfutter auf den Aufbruch vor. - Hinter der ersten Halle steht die Dagoba. Es gibt an den vier Ecken der Plattform, auf der sie steht, mannshohe Gebetsmuehlen, und ausserdem eine Reihe von normal grossen um die Dagoba herum. Sie werden so fleissig in Bewegung gehalten und drehen sich so schnell, dass man der Griffe (es gibt nur je zwei) nicht habhaft werden kann. Also gibt man nur dem Messingzylinder noch einen weiteren Schwung. - Das naechste Gebaeude ist die Sutra-Aufbewahrungshalle, aber ich kann keine Buecher ausmachen. Die sind wohl fernab vom gemeinen Volk im Obergeschoss untergebracht. Rechts der Sutra-Halle befindet sich noch ein interessanter Raum: der Gebetsraum. Vor dem Eingang steht eine Ansammlung dunkelgelber Moenchsschuhe. Hier hocken zahlreiche Moenche am Boden vor niedrigen Tischen, und zwar in zwei sich gegenueber sitzenden Gruppen. Die meisten haben ein aufgeschlagenes Buch vor sich, und soweit es sich mir erschliesst, liest jeder laut aus seinem Buch vorbei (und nicht den gleichen Text). Das ergibt ein lautes Brouhaha (wie heisst noch gleich das deutsche Wort dafuer?). Ploetzlich schlaegt einer der Moenche einen Gong, woraufhin jeder zu einem Instrument greift, der eins hat, und dann wird kurzzeitig das Woerter-Brouhaha durch ein Toene-Brouhaha ersetzt. Zum Einsatz kommen Alphorn, Kaurimuschel, Klappertroemmelchen, Gong, Becken - zumindest an diese kann ich mich erinnern, vielleicht waren es noch weitere.

Dann haben wir genug gesehen und wollen aufbrechen, zumal Sue wieder in Sorge ist, dass wir das Programm nicht schaffen wuerden. Mittlerweile hat sich der Himmel dunkelgrau bezogen, und nun fallen gar ein paar schmutzige Schneeflocken! Jede einzelne hinterlaesst auf Kleidung und Scheiben einen kleinen Schmutzfleck, wohl weil sie auf ihrem Weg zur Erde Partikel aus dem Rauch der Kohleoefen aufsammelt.

Eigentlich steht noch der/die/das Dailuo Ding auf dem Programm. Das ist der Tempel fuer die bequeme Pilgerreise. Ein chinesischer Buddhist soll naemlich moeglichst in seinem Leben einmal die grosse Pilgerreise zum Wutaishan machen. Die beinhaltet, dass man jeden der fuenf Gipfel (Nord, Sued, West, Ost, Haupt) besuchen muss. Das ist natuerlich beschwerlich und langwierig, denn wie gesagt ist dieses Massiv ein ernstzunehmendes Gebirge, und wenn man sich noch in Erinnerung ruft, dass der Nordgipfel mit ueber 3000 Metern Hoehe frueher ganzjaehrig eine Schneemuetze trug, kann man sich das Ausmass des Unterfangens vor Augen fuehren. Auch einer der Kaiser hatte es auf mehreren Reisen zum Wutaishan nie geschafft, alle Gipfel zu bezwingen. Daher kam er auf die Idee, Dailuo Ding zu bauen. Hier brauchte man nur eine Spitze zu erklimmen, und oben waren fuenf heilige Buddhas aufgestellt, fuer jeden Gipfel einer. Und das Schoene: "das gildet auch"! Das ist dann zwar nicht die grosse Pilgerreise, sondern die bequeme, aber sie verspricht den Eiligen oder Unsportlicheren dieselben Resultate. Ja, so sind sie, die Chinesen …! ;-)) Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb Dailuo Ding auch auf unserem Reiseplan stand - aber mit den aktuellen Wetterbedingungen bekraeftigen wir die Entscheidung, es auszulassen. Wir haben ja noch die Fahrt nach Datong vor uns und unterwegs den Besuch des haengenden Klosters, das ein absolutes Muss ist. Ich meine zwar, dass wir beides haetten bequem schaffen koennen, aber sei's drum: die Tempel hier auf dem Wutaishan haben mich sowieso nicht vom Hocker gerissen. Alles ziemlich voll, was die Stimmung schon mal leicht ins Profane kippen lassen kann. Also ist jetzt sofort Abfahrt. Zwar gaebe es hier noch ein paar ordentliche Restaurants und unterwegs keine, aber halb zwoelf ist definitiv zu frueh zum Mittagessen. Nun geht es also ueber den ziemlich kahlen Nordberg - da ist von herbstlicher Farbenpracht wirklich nichts zu sehen, und das liegt nicht nur am Grau des Himmels. Hier ist einfach kein buntes Laub!

Jenseits des Berges halten wir in einem oeden Ort und essen eine Schuessel Nudelsuppe bzw. Suppennudeln. Das muss reichen. Dann geht es weiter durchs Gebirg' und durch die Ebene. An einigen Stellen sieht man zwar Terrassen, aber insgesamt wirkt die Landschaft recht kahl und oede und auch eher duenn besiedelt. - Kurz nach zwei Uhr legen wir noch einen Zwischenstopp an der Yingxianmuta ein, einer fuenfstoeckigen, fast tausend Jahre alten Holzpagode. Sie wurde 1056 in der Liao-Dynastie gebaut, ist 67 Meter hoch und wiegt ueber 7000 Tonnen. Es gibt den Ausdruck "ein Wald fuer eine Pagode", sagt Sue. Aus einem mir nicht ganz erklaerlichen Grund wird diese Pagode mit dem Eiffelturm und dem schiefen Turm von Pisa zu einer Gruppe der "drei schoensten Tuerme der Welt" zusammengefasst. Meinetwegen.

Der Wind pfeift allerdings sehr stark und ist eisig. Wegen des Windes darf man nur in den zweiten Stock (das erste Obergeschoss), normalerweise kann auch der dritte Stock besichtigt werden. Da die Treppe zwar nicht sehr hell, aber breit und luftig (um nicht zu sagen: zugig) ist und ein Gelaender hat, bleibe ich trotz der alten Planken von Pagodaphobie verschont. Im Erdgeschoss befindet sich eine elf Meter hohe Statue eines goldenen Sakyamuni; die Waende sind bemalt. Oben sitzen ein Buddha und vier Bodhisattvas jeder auf seiner Lotusbluete. Der Ausblick laesst uns rundherum ins flache Land schauen; es ist, als gaebe es weit und breit keinen Berg. - Die Tempelhallen hinter dem alten Turm sind nicht der Rede wert; jenseits dieser kleineren Gebaeude steht eine grosse, brandneue Halle, die offenbar noch geschlossen ist. Vermutlich ist der Aussenbau jetzt fertig, aber die Innenausstattung noch nicht. Nachdem wir hier etwa eine Dreiviertelstunde verbracht haben, geht die Fahrt weiter zum Xuankong Si, dem haengenden Tempel. Unterwegs saeumen Blumenfelder die Strasse: orangefarbene Blueten leuchten noch auf schon vertrockneten braunen Stengeln. Was das wohl ist? Astern? Strohblumen? Im Vorbeifahren koennen wir das nicht ausmachen.

Der haengende Tempel liegt - oder eben haengt - gut 60 km suedoestlich von Datong an einer Felswand gegenueber dem heiligen Berg Hengshan. Zunaechst hatte man wohl im Tal gebaut, aber der Drachenfluss dort hat die Gebaeude immer wieder weggerissen. Vor 1500 Jahren, in der Zeit der noerdlichen Wei, begann man also, das Kloster in die Felswand zu haengen. Dazu wurden Tragbalken ins Gestein getrieben und mit einer Art Duebeltechnik fest verankert. Zusaetzlich stuetzen vergleichsweise duenne Balken die Gebaeude. Sue erklaert, dass sie das nur bei Bedarf tun, wenn naemlich viele Menschen darin sind - unter normalen Umstaenden wuerden die waagerechten Tragbalken ihr Werk allein tun. Der Tempel ist klein: zehn Raeume gebe es, sagt der Reisefuehrer, in denen etwa 80 Statuen aus verschiedenen Materialien untergebracht seien. Die Feldwand ist hinten ein bisschen ausgehoehlt, und davor sind halbe Holzgebaeude gesetzt worden. Die Besucher werden auf einer "Einbahnstrasse" hindurchgeschleust, und ich verliere in den schmalen Gaengen (an einigen kommt Burkhard mit dem dicken Fotorucksack nur gerade noch so durch) und Treppen und leitersteilen Stiegen schon sofort das Gefuehl dafuer, in welchem Teil ich mich befinde, obwohl man nie in Innenraeumen geht, sondern immer nur "auf dem Balkon". Neben dem Eingangsbereich, der auf einem Sockel von roten Ziegeln steht, gibt es zwei dreigeschossige Gebaeudeteile und dazwischen einen Gang mit einem kleineren Gebaeude. - Die Statuen machen auf mich keinen besonderen Eindruck; erwaehnenswert ist vor allem, dass diese heilige Staette "eine fuer alle" ist: in der Sanjiao-"Halle" (Kammer!), also der Halle der drei Religionen, sitzen friedlich vereint Laozi, der Begruender des Daoismus, Buddha und Konfuzius. - Unten im Tal prangen auf einem riesigen Felsbrocken die zwei Zeichen zhangguan, grossartig, was ein "Zitat" des beruehmten Tang-Dichters Li Bai sein soll. Der scheint ja viel im Lande herumgereist zu sein, wir erinnern uns an die Jadeperlen am blauen Band (oder so aehnlich), mit denen er die Landschaft am Li-Fluss zwischen Guilin und Yangshuo verglichen hat. Das ist jedenfalls typisch chinesisch: die Schoenheit des Ortes wird mit einer Kalligraphie betont und ueberhoeht.

Dann beginnt die letzte Etappe nach Datong. Hier in der Drachenflussschlucht waehnen wir die Sonne schon untergegangen - als wir aus der Schlucht herausfahren, geht sie wieder auf. Aber sie steht schon nicht mehr sehr weit ueber dem Horizont, und irgendwann zwischen halb und viertel vor sechs ist sie schliesslich doch hinter den Bergen in der Ferne verschwunden. In der Daemmerung erreichen wir eine Kreuzung, an der der Fahrer wohl normalerweise geradeaus gefahren waere - aber das geht jetzt nicht. Hm. Da heisst es sich durchfragen, denn kein einziges Schild weist den Weg. Schliesslich kommen wir aber doch in Datong an, mit 3 Millionen Einwohnern die zweitgroesste Stadt in Shanxi nach der Hauptstadt Taiyuan.

Sonntag, 18. Oktober 2009: Kulinarische Hoehenfluege in Datong

Sue erzaehlt uns, dass Hotpot hier in Datong eine Spezialitaet sei, gern mit Hammel- oder Lammfleisch, die mongolische Variante, denn die Mongolei ist ja nicht weit. Ja prima, dann essen wir das! Aber dann finden die beiden kein Hotpot-Restaurant, oder wollen keins finden, sondern uns lieber am Hotel abliefern und Feierabend machen. Im Hotel gebe es auch gutes Essen, ein Buffet. Ach ja, so haetten wir uns nicht abspeisen lassen sollen. Buffet ist erstens nicht toll, und zweitens gab es keins. Das chinesische Restaurant des Hotels serviert angeblich kantonesische Kost und Sichuan-Speisen, aber als wir im dritten Geschoss am Restaurant ankommen, fuehrt man uns in den Ballsaal im vierten Stock. Der ist eisig kalt, hat natuerlich nur die typischen grossen, runden Tische fuer 10 bis 12 Personen und ist so gut wie leer. Was?! Hier soll ich essen?! Im Lääve nit! Dann bleibt wohl nur noch die Xi Canting, das Westfutter-Restaurant. Da ist auch niemand, aber der Raum ist kleiner und waermer und hat kleine quadratische Tische. Man macht sogar fuer uns das Licht an. Im Gedanken an etwas Heisses bestellen wir Suppe, ich eine Kuerbissuppe, Burkhard eine Meeresfruechtesuppe. Bald darauf kommt die Bedienung wieder: es gibt keine Kuerbissuppe. Haeh? Auf jedem chinesischen Fruehstuecksbuffet gibt es gedaempften Kuerbis: zerkleinern, mit Bruehe auffuellen: fertig ist die Kuerbissuppe! Aber das wollen sie wohl nicht - gut, dann eben fuer mich keine Suppe. Als Hautgericht habe ich einen "pan-fried Mexican burger" bestellt. Der entpuppt sich als eine Mischung aus Pfannkuchen und Pizza Calzone, gefuellt mit Haehnchenfleischwuerfelchen, Paprika und Kaese. Fehlt bloss die Tomatensauce … Burkhard hat sich fuer "das franzoesische Nationalgericht" entschieden: steack-frites. Zwar hat er's medium bestellt, aber es kommt rare: das hat gerade mal das heisse Fett in der Pfanne gesehen. Gut, dass er das auch mag … Dekoriert war das Ganze mit einem fritierten "Nudelbuendelbesen" mit Tempurateigflocken (eine typisch japanische Dekoration), der in einem Klacks eiskalten Erdbohnenschlamms steckte. Auf den Kaffee haben wir dann lieber verzichtet …

Freitag, 16. Oktober 2009: Vier Tempel (die anderen beiden)

Danach nehmen wir das letzte Stueck Fahrt nach Taiyuan in Angriff, denn die
beiden verbleibenden Tempel liegen beide innerhalb der Provinzhauptstadt. Die
hat etwa 3,4 Millionen Einwohner, die alle auf den Strassen unterwegs zu sein
scheinen. Hier kommt's mir voller vor als in Shanghai, oder liegt das nur daran,
dass es in Pingyao relativ leer war?? Der Verkehr ist auch 'ne Katastrophe - wie
eben in chinesischen Grossstaedten gefahren wird. Burkhard findet es noch
chaotischer als anderswo … mag sein. Sue und der Fahrer nehmen uns mit in ein
lokales Nudelrestaurant, in dem wir vielleicht die ersten langnasigen Gaeste
ueberhaupt sind … aber wer weiss. Es gibt verschiedene Sorten Nudeln mit
verschiedenen Saucen. Nur leider kalt (nicht lauwarm, schlichtweg kalt)! Ich
haette sie lieber heiss gehabt, Burkhard erst recht. Na ja. Ansonsten schmecken
sie gut. Dazu gibt es eine Art flaches Broetchen, das mit Fleischstueckchen in
Sauce gefuellt ist - im Gegensatz zu den Nudeln ist das heiss und schmeckt
ziemlich ganz genau wie Gulasch. Wer haette das gedacht! Da sich kalte Nudeln
mit Staebchen gar nicht anders essen lassen, als dass man sie hinunterschlingt,
und da zwei Personen an einem Broetchen auch nicht lange herumzunagen brauchen
(fuers Protokoll: das Broetchen konnte man naemlich nur essen, nicht geniessen,
denn es waren gar keine Knochen drin und nicht mal Knorpel), haben wir mit
diesem Schnellimbiss recht viel Zeit gespart, so dass Sues Sorgen wegen des
Programms ploetzlich wie weggeblasen waren. Also konnten wir nun in Ruhe zu den
zwei Pagoden - shuang ta - fahren, die angeblich ein Wahrzeichen Taiyuans sind.

Die beiden Tuerme liegen in einem speziell umfriedeten Areal mit Torbogen und
einem Park mit zum Teil alten Paeonien noch aus der Ming-Zeit (also vor 1644).
Neulich habe ich von der aeltesten Pflanze der Welt gehoert, einer 44.000 Jahre
alten Stechpalme, die sich mit Auslaeufern vermehrt und ganz allein ein riesiges
Areal einnimmt (ich habe nur vergessen wo). Da sind diese Pfingstroeschen ja
noch taufrisch. Laut dem Erklaerungsschild stammen sie aus "China's Accident
Times", schmunzel. Ich glaube aber nicht, dass Unfallzeiten gemeint waren,
sondern einfach nur alte (ancient) Zeiten. - Das Kloster bei den Pagoden wurde
zwar als ShuangTa Si angekuendigt, heisst aber offiziell YongZun Si. Die
Tempelhalle selbst hinterlaesst keinen besonderen Eindruck bei mir, aber der Hof
ist schon bemerkenswert, laesst er doch an einen europaeischen Kreuzgang denken.
Die Gebaeude ringsum haben graue Steinfronten und keine bunten Balken oder
Dachkonstruktionen. Das Hauptgebaeude ist zweistoeckig und mit Reihen von
rundbogigen Fenstern ausgestattet. Im Hof, den zwei Wege kreuzen, stehen die
besagten Paeonien unter alten Baeumen. Im Nachmittagslicht sieht alles sehr
friedlich aus.

Wir halten uns nicht lange auf und gehen gleich zu den Pagoden hinueber. Zu
Zeiten des Buergerkriegs haetten sich die Guomindang-Truppen in den Pagoden
eingenistet und die gute Uebersicht dazu genutzt, die Kommunisten auszuspaehen,
so dass ihre Kumpanen sie bequem ausfindig machen und umbringen konnten.
Jenseits des Parks befinde sich daher ein Maertyrerfriedhof, erklaert Sue.

Auf der Pagodenplattform pfeift der Wind so heftig wie schon den ganzen Tag. Die
zahlreichen Gloeckchen an den je 8 Dachecken auf den je 13 Etagen der ueber 50
Meter hohen Tuerme laeuten buchstaeblich Sturm, auch wenn die Nachmittagssonne
und der superblaue Himmel rein optisch eher zur Gemaechlichkeit einladen. Auf
dem Platz sehe ich mehrere goldene Kroenchen liegen und frage mich schon, wo die
herkommen, als der Wind einen der kleinen roten Lampions aus einem Baum reisst:
aha, die "Kroenchen" sind gar keine, sondern verzieren die Oeffnungen der
Lampions. Zu dem Zeitpunkt hat meine kuerzlich entwickelte Pagodaphobie schon
wieder zugeschlagen. Sue berichtet, sie habe sich wegen des starken Winds nicht
weiter als bis ins dritte Geschoss getraut. Das Argument gilt bei mir gar nicht,
ich glaube auch nicht, dass der Wind mich hier beeinflusst - das Schlimme sind
die sehr schmalen Treppen mit hohen Stufen ohne Gelaender und im Dunkeln; oft
sind die Gaenge ja auch noch recht niedrig. Scheint eine spezifische Auspraegung
von Klaustrophobie zu sein. Burkhard hingegen traut sich, berichtet aber, die
obersten Etagen doch nicht besucht zu haben, denn da muss man auf dem Bauch zu
den Fenstern robben … - Ich beschraenke mich also darauf, die Aussenansicht der
um die vierhundert Jahre alten Tuerme aus der Ming-Zeit in dem wunderbaren Licht
zu geniessen. Von der Spitzenbekroenung abgesehen erscheinen sie weitgehend
identisch.

Zwischen den Pagoden befindet sich ein Pavillon, in dem heute allerlei Kram
verkauft wird und aus dem heraus der Platz mit chinesischer Bass-Zupfmusik
beschallt wird. Dahinter liegt eine weitere unbedeutende Buddha-Halle, und der
Platz wird insgesamt von Wandelgaengen eingerahmt. Hier brauchen wir auch nicht
sehr lange, so dass Sues Sorgen nun eher ins Gegenteil umschlagen: Wie soll man
diese Langnasen den Rest des Tages beschaeftigen??

Einen Programmpunkt haben wir ja wenigstens noch, das (oder den?) Chongshan Si,
auch irgendwo mitten in der Stadt gelegen. Vor dem Tor wachen ungewoehnliche
Bronzeloewen, rechts neben dem einzigen Hof ist eine riesige Baustelle. Das
"Leckerli" an diesem Tempel ist eine Statue der tausendarmigen GuanYin in der
Haupthalle namens DaBei Dian, die hinter einer wohl weniger bedeutenden, aber
sehr hellen Jade(?)buddhafigur im quasi mystischen Halbdunkel liegt. - Zwar war
der Tempel zuerst 1381 erbaut worden, aber jetzt sehen wir hier, was nach einem
verheerenden Brand im 19. Jahrhundert wiederhergestellt wurde. Zum Brandschutz
sieht man in chinesischen Tempeln ja allerhand. Schaufeln fuer Loeschsand, ganze
oder auch halbe Eimer (die klappern nicht so schrecklich im Wind, wenn sie an
einer Wand haengen), moderne Schaum- oder CO2-Loescher, riesige Keramikbottiche
als Mini-Loeschteiche oder, was hier in der Gegend gebraeuchlich ist, Gruppen
von drei oder mehr kleinen Packpapiertueten, die irgendwo auf einem Fenstersims
stehen. Zuerst hab' ich mich ja immer gefragt, ob das Vogelfutter ist - es ist
aber Loeschsand. Ob schon irgendwann irgendwer mit diesen Mengen irgendetwas
gegen ein Feuer ausgerichtet hat? Damit kann man vermutlich bloss ein
Raeucherstaebchen loeschen. -

Auch hier im Chongshan Si sind wir jedenfalls bald fertig, und es ist erst kurz
nach fuenf Uhr. Wir fahren in Ermangelung besserer Ideen dennoch gleich zu
unserem Zehntausend-Loewen-Hotel irgendwo in den suedlichen, neuen Vierteln der
Stadt, unweit vom Fluss, der jetzt schon aufgestaut werden muss, um ueberhaupt
als Reservoir dienen zu koennen. Wir verabreden, dass es morgen schon um 7:30
Uhr losgehen soll (o je!). Dann muessen wir ja auch heute beizeiten schlafen
gehen. Vorher besuchen wir noch das "Ocean Breeze" genannte Restaurant, in dem
es in Unterwasseratmosphaere westliche und chinesische Speisen geben soll.
Unterwasseratmosphaere: an den wie Sandstrand aussehenden Waenden kleben Krebse,
Muscheln und Schnecken, die Lampen sehen aus wie fiese, dicke Quallen, der Boden
ist ausgehoben und gewaehrt unter dickem Glas Blicke ins Blaue. Schwimmender
Seetang haengt unter der Decke, vereinzelt schweben dort mondrunde Fugu. An der
Seite ist ein Buffet aufgebaut. Hm. Eigentlich wollen wir lieber à la carte
essen, aber nach einem Blick auf die Karte entscheiden wir uns doch fuers
Buffet, zumal hier Fleisch und Gemuese auf Wunsch frisch gebraten werden.
Geschmacklich sind die Sachen gar nicht so schlecht. Leider ist aber alles lau,
auch das, was heiss sein sollte. Und auch die Cola, aber da kann man wenigstens
mit Eis noch etwas fuer die richtige Temperatur tun.

Danach sind wir zu allem zu faul und gehen fast sofort zu Bett. Ich arbeite an
diesen Notizen, aber schon bald wollen mir die Augen zufallen.

Samstag, 17. Oktober 2009

Freitag, 16. Oktober 2009: Vier Tempel (die ersten zwei)

Heute hiess es eine Stunde frueher aufstehen als gestern, denn um 8 Uhr morgens sollten wir schon auschecken. Dann dauert es ja noch 10 oder 15 Minuten, bis wir mit unserem Gepaeck diesmal am Westtor ankommen. Der Fahrer erwartet uns dort schon - Koffer hinten in den Minibus, und schon sind wir "on the road again": auf der Strasse zum Himmelsdrachenberg (tianlongshan). Zunaechst fahren wir ein ganzes Stueck auf einer schoenen, heilen Autobahn. Als wir aber den Fuss des Berges erreicht haben, heisst es auf eine ziemlich holprige Serpentinenstrasse einbiegen, die uns 14 km weit und ich weiss nicht wie hoch bis zu einem Haltepunkt fuehrt, von dem aus wir dann Treppen hinuntersteigen muessen. Bald stossen wir auf einen Pavillon, der aber ausser einem Blick ins Tal nichts Besonderes zu bieten hat. Unten im Tal sieht man eine Reihe "stationaerer Buden" mit blauen Daechern, vor allem aber dringt von dort ziemlich laute Musik an unsere Ohren. Nicht mal Buddha-Musik! Als naechstes erreichen wir einen kleinen Hof, in dem ein gelb gekleideter buddhistischer Moench "einsiedelt" und die Weisse-Drachen-Grotte bewacht. Da gibt es aber keinen weissen Drachen, und eine Grotte ist das auch nicht: ein Tonnengewoelbe ueberspannt einen finsteren Raum, der nicht mal toll ausgestattet ist. Insofern halten wir uns nicht lange auf und gehen gleich zur Haupthoehle. Das ist auch gar keine richtige Hoehle und nicht mal ein Abri (Felsueberhang, mir gefaellt in diesem Fall das franzoesische Wort am besten); man hat vielmehr eine Haeuserecke vor den Fels gebaut, um den grossen sitzenden Tang-Buddha und die drei kleineren Buddhas (einer von ihnen mit 11 Koepfen) vor seinen Unterschenkeln vor unguenstigen Einfluessen der Aussenwelt zu schuetzen. Die weit ausladenden Dachspitzen der verschiedenen Ebenen hatten wir schon von besagtem Pavillon aus gesehen; mit den gruen glasierten Dachziegeln hatten sie mich an Tannebaum-Aeste aus Kinderzeichnungen erinnert.

Ein Mensch in blaugrauem Tarnanzug bewacht die Hoehle. Innen fuehrt eine s-teile S-tiege nach oben, "beruehmte Kultur, nicht hineingehen" steht auf einem Schild an den unteren Stufen. Ich bin etwas befremdet. Wer lesen kann, ist nicht immer im Vorteil - nach ein paar Worten, die sie mit dem Getarnten gewechselt hat, erklaert uns Sue, gegen Geld koennten wir sowohl hinaufgehen als auch (blitzlos) fotografieren. Wieviel? Das moegen wir selbst entscheiden, schliesslich sei das ein buddhistischer Ort. - Ich bin etwas nervoes wegen der steilen Treppe, die wirklich eher wie eine Leiter ist, raffe aber meinen Mut zusammen, schliesslich will ich dem Buddha geradeheraus ins Gesicht schauen. Er hat allerdings Glubschaugen und auch ein etwas seltsames Profil, aber insgesamt hat dieser Ort eine tolle Stimmung. Unten faehrt der kraeftig wehende Wind in die offene Tuer hinein und laesst die roten und gelben Fahnen und Buddha-Maentel flattern. Neben diesen vier grossen, noch gut erhaltenen (oder gut restaurierten?) Statuen gibt es eine Reihe von weiteren kleinen Hoehlen und Nischen, die aber weitestgehend zerstoert sind. In einer sieht man noch eine gemalte Lotusbluete an der Decke, hier und da sitzen Kopflose herum. Diese Grotten seien von den Japanern gepluendert worden, heisst es. Schade - aber trotzdem ist es noch schoen hier. Jetzt gehen wir hinueber auf die andere Seite, an der weitere, fast alle vollstaendig gepluenderte Hoehlen liegen. Die letzte, vergleichsweise grosse, in die man sogar hineinklettern kann, hat noch einige (wieder kopflose) Statuen, liegt aber so, dass ich mir sogar das Hinklettern lieber erspare. Bin ich 'ne Bergziege?! Dann heisst es wieder Treppen(ab)steigen, und noch mehr Treppen, bis wir fast auf Hoehe der blaubedachten Buden sind. Von hier kann man zurueckschauen auf die "durchloecherte" sandfarbene Felswand, eingerahmt von gruenem Wald und unter lanlan de tian, blauem Himmel also, das sieht schon toll aus. Ausserdem sieht man noch die ebenfalls gruenglasiertem Daecher des Shengshou-Tempels, des Tempels zur kaiserlichen Langlebigkeit. Oder so. Heute ist hier "kaiguang", ein Tempelfest. Das scheint ein ziemlich grosses Ereignis zu sein, und nur aus diesem Anlass wird hier auch der musikalische Laerm gemacht. "Local opera" sei das, erklaert Sue uns, o je! Wir erinnern uns noch an Shaanxi-Oper: wer am schrillsten schreit, gewinnt … jedenfalls fuer unsere Ohren. Als wir das Tempeltor erreichen, sehen wir eine vergleichsweise kleine Gruppe ziemlich betagter Schauspieler/Saenger und Musikanten, die sich hier ohne Kostuem, Maske oder Schminke, aber mit grosser Begeisterung und grossen Lautsprechern produzieren. Ansonsten wird Raeucherwerk in allen Groessen verkauft, und es herrscht geschaeftiges Treiben. Im Innenhof des Tempels wird es noch geschaeftiger, und gerade sind zahlreiche buddhistische Moenche in braunen Kutten ueber ihrer safrangelben Tracht mit einer Zeremonie in der linken Halle beschaeftigt. Wir sehen uns also erst einmal den rechten hinteren Teil des Tempels an. Hier liegen fuenf "kuenstliche Grotten" (kleine, laengstonnengewoelbte Raeume), die offenbar daoistisch sind. Es wimmelt hier ploetzlich von Bagua, Yin und Yang, und richtig: da taucht jetzt auch ein alter Priester im blauschwarzen "Dao-Outfit" und mit langem, weissem Fusselbart auf. Den Boden vor den fuenf Toennchen schmuecken hochglanzpolierte marmorne Yin-Yang-Intarsien, mit einigen Schriftzeichen drumherum, und hier sieht man bald darauf einen buddhistischen Moench und den Dao-Priester in ein angeregtes Gespraech vertieft. Offenbar stellt der Buddhist interessierte Fragen. Ein alter Laie nimmt auch gleich an dieser "Vorlesung" teil.

Dann wollen/sollen wir weiter; Sue ist in Sorge, dass wir das Tagesprogramm nicht abarbeiten koennen … Vorher noch zur Toilette. Hier ist eigentlich alles ziemlich neu, auch der Tempel (ein alter neu gemacht, versteht sich), aber diese schreckliche Toilette ist nicht mal ein W-Zee. Hat ja gerade noch gefehlt, dass ein Schild den Weg zum "Handwaschraum" weist … was Hygiene betrifft, koennen sich die "Mutterlandchinesen" bei den Leuten in Hong Kong noch viel abschauen. Brrr, lieber gleich wieder verdraengen, die Gedanken daran.

Nun geht es die Serpentinen wieder hinunter, unten liegt gleich das Jin Ci-Tempelareal, das ein grosser Park mit verschiedenen Gebaeuden und Tempeln und Hoefen mit einer mehr als 1500jaehrigen Geschichte ist. Ausserdem gibt es eine "niemals versiegende Quelle" und jahrtausendealte Baeume. Der aelteste soll schon dreitausend Jahre alt sein - allerdings ist das jetzt wirklich ein Baumgreis mit nur noch reduzierter Lebenskraft. Drei Nationalschaetze berge dieser Park auch: einen offenen Pavillon zum Darbringen von Opfergaben, eine Kreuzbruecke ueber einem kleinen Teich (ich wuerde es eher ein Wasserloch nennen), bei der vier breite Brueckenteile aus den vier Himmelsrichtungen zu einer quadratischen Plattform mitten ueber dem Wasser hinauffuehren, und eine Drachenhalle, die "der heiligen Mutter" gewidmet ist. Diese Halle ist allerdings ungewoehnlich gestaltet, mit grimmigen, duennen, fast schlangenartigen Drachen, die sich um die hoelzernen Saeulen auf ihrer Vorderseite winden und den Betrachter boese anzufauchen scheinen. Sie sind auch nicht bunt lackiert, sondern hell holzfarben vor den dunkelroten Saeulen. Die Halle ist weitgehend offen und birgt Statuen aus der Song-Dynastie, darunter vor allem 33 (fast) lebensgrosse bildhuebsche Maedels - so fanden jedenfalls die Leute damals.

Bevor man noch zu dieser Halle kommt, passiert man einen Ehrenbogen mit den Worten "Dui Yue", die ein beruehmter Kalligraph geschrieben hat, welcher seine Mutter durch das Erbauen dieses Ehrenbogens von einer langwierigen und von allen Aerzten zuvor als unheilbar eingestuften Migraene kuriert hatte. Und noch davor stehen vier Eisenkerle mit grimmigem Blick, die hier schon etwa tausend Jahre lang den Fluss in Schach halten sollen, der frueher wohl recht haeufig ueber die Ufer zu treten und Zerstoerungen anzurichten pflegte. Noch davor steht ein Theater, das einen auf der buehnenabgewandten Seite mit zwei grossen, runden, hell umrahmten Fenster-Augen aufmerksam anblickt … ob man auch dem aeltesten gusseisernen Loewenpaar Chinas nichts zu Leide tut.

Der ganze Komplex ist fast wie ein Vergnuegungspark, mit noch einer und noch einer und noch einer Attraktion. Der kleine Pavillon weiter oben rechts am Berg, die Reihen von Tempelhallen oberhalb des Baumgreises, die jetzt alle geschlossen sind und in denen einige Figuren langsam vor sich hin verstauben und verfallen. Eine Szenerie, durch den Tuerspalt erspaeht, erinnert mich an eine Maerchenbuchillustration: irgendwie wirkt das wie Dornroeschens im Schlaf erstarrter Hofstaat. Eine auf einem Schutthaufen ins Nichts hinein betende Figur sieht auch ueberraschend europaeisch aus.

Auf der linken Seite der Drachenhalle ueberdacht ein Rundpavillon die kraeftig strudelnde, allzeit lebendige Quelle, stets ueberwacht von einer Flussgoettin in einer kleinen Tempelhalle gleich oberhalb. Unterhalb liegt das Flussbett mit recht klarem Wasser. Nicht sehr hoch ueber dem aktuellen Wasserspiegel fuehrt eine Zickzackbruecke auf die andere Seite, von der aus man gut auf ein Marmorboot gleich neben dem Drachenkopf gucken kann, der hier das Quellwasser in den Fluss speit. Einem Marmormann auf den Kopf - wer das wohl ist? Die geneigten Leser moegen sich erinnern, dass longtou - Drachenkopf - ja auch das ganz normale Wort fuer ganz normale Wasserhaehne ist. Nur dass man bei diesem Drachenkopf wohl kaum das Wasser wird abstellen koennen.

Unter zwei in der Herbstsonne herrlich gelb leuchtenden riesigen Ginkgos steht eine grosse Ahnenhalle mit einer ungewoehnlichen Anzahl von Kalligraphien auf den typischen grossen, querformatigen Tafeln. Das ist eigentlich das Herzstueck der Anlage, denn diese Ahnenhalle gehoert der Familie Jin. Geht man hier weiter, kommt man an einem um diese Jahreszeit etwas trostlosen Lotusteich vorbei, um bald darauf noch einen buddhistischen Tempel zu erreichen, neben dem eine siebenstoeckige Pagode in warmem Sandsteingelb aufleuchtet. In einer Seitenhalle darf man SongZi GuanYin seinen Kinderwunsch anvertrauen. Den Garten schmuecken hier zahlreiche Pfingstrosenstraeucher. Hier ist es auch ziemlich leer - ich glaube, ausser uns ist gar niemand da - und wunderbar friedlich.

Freitag, 16. Oktober 2009

Donnerstag, 15. Oktober 2009: Pingyao und Umgebung

Die Betten in unserer Herberge sind wieder mal typisch chinesisch: die Haerte. Eine feste Latex-Matratze auf einem Brett, wuerde ich sagen; da federt nichts. Aber dafuer sind die Oberbetten recht gut und warm, und zu meinem grossen Entzuecken gibt es standardmaessig ein Koernerkopfkissen (und zusaetzlich ein normales). Insofern habe ich jedenfalls gut geschlafen, und Burkhard auch, sagt er. Am Morgen haben wir uns warm eingepackt, mit Pullover und Daunenjacke, denn die Luft ist empfindlich kuehl.

Passend zu den Betten war auch das Fruehstuecksbuffet ziemlich chinesisch. Kurz zusammengefasst moechte ich eine der Damen aus der deutschen Reisegruppe zitieren, die schon am ganzen Buffet entlanggegangen war und folgende Statusmeldung an ihre Mitreisenden gab: "Hier ist gar nichts, das mich anspringt. Mein Teller ist noch leer!" Aber wir haben doch noch genuegend zum Sattwerden gefunden, nachdem wir gestern Abend ja schon das Abendessen hatten ausfallen lassen, da unser Schlafbeduerfnis groesser als das Essbeduerfnis war. Ausser warmem Orangensaft-Surrogat gab es hier wenigstens auch richtigen Kaffee (und sogar Toast, aber die Toasterschlange war wegen der besagten deutschen Reisegruppe zu lang).

Um kurz vor neun sind wir losgegangen. Die Strassen rund um das Hotel sind ueberraschend untouristisch. Nachdem wir den Pfann- und Mondkuchenbackstand passiert haben, der ein bisschen unangenehm nach nicht mehr ganz frischem Fritieroel riecht, hoeren wir ein Lautsprechergetoese aus einer Seitengasse. Wir biegen ein: aha, der Eiermann! Da fand ich die Musikinstrumente gestern in der Ausstellung im Qiao Jia Da Yuan aber besser; da hatte jeder fahrende Haendler ein Schlag- oder Blasinstrument, je nach seiner Ware.

Erst ab der Kreuzung von Nord-Sued- und Ost-West-Achse wird es touristischer. Hier gibt es auch die verschiedenen Fruehstuecksimbisse fuer Chinesen, mit dampfenden Daempfkoerben, Maiskolbenstueckekochkesseln, einer herrlichen gusseisernen Teekanne auf einer "antiken" Feuerstelle udglm. Am Nordtor herrscht geschaeftiges Treiben, und hier wartet auch unser Fahrer auf uns, denn am Vormittag wollen wir zwei Tempel in der Umgebung besichtigen, den Zhenguo Si und den Shuanglin Si.

Bald erreichen wir den Zhenguo-Tempel. Kein Mensch da! Also ist das ein echter Geheimtipp. Man passiert das Eingangstor und findet sich in einem Rosengarten. Die erste Halle beherbergt, wie ueblich, die vier Himmelskoenige. Danach kommt die Haupthalle mit mehr als einem halben Dutzend ueberlebensgrosser Figuren aus der Tang-Dynastie. Youdian pang, ein bisschen fett sind sie, wie sich das gehoert fuer schoene Menschen dieser Zeit. Sie haben weisse "Haut" und lebhaft bunte Gewaender. So langsam nagt aber der Zahn der Zeit, und das Lehmfleisch faellt an einigen Stellen schon vom Holzgerippe … hoechste Zeit fuer eine Restaurierung. Die Waende zieren zahlreiche gemalte Buddhas, weshalb diese Halle eine der zahlreichen Zehntausend-Buddha-Hallen ist. (Oder waren es hier nur Eintausend? Das waere zumindest realistischer.) Die letzte Halle ist zweistoeckig, so dass man auch noch von oben in den friedlichen, morgensonnigen und von Vogelgezwitscher erfuellten Tempelhof schauen kann.

Ausser uns ist nur noch ein weiterer Besucher da, ein junger Mann, Chinese wohl, der recht kulturinteressiert wirkt und auch viele Fotos macht. Ansonsten "kein Schwein"! Jenseits des Rosengartens liege der Blumengarten, sagt ein Schild - aber da ist ein grosses Kohlrabifeld!

Danach fahren wir auf leichten Umwegen zum Shuanglin Si, zu Deutsch Zwei-Waelder-Tempel. Ich sehe nicht mal einen, statt dessen entdecken wir, dass dieser Tempel recht wehrhaft wirkt, mit einer eigenen zinnenbekroenten "Stadt"mauer. Er blickt auch schon auf eine 1500jaehrige Geschichte zurueck, die sicher wechselvoll war. Die Himmelskoenige stehen hier nur unter einem Dach, ansonsten an der frischen Luft. Hinter Gittern allerdings, sie gucken auch furchtbar grimmig … In diesem Tempel sind heute Morgen Scharen von Kunststudenten unterwegs, die sich hier verschiedenen Themen widmen koennen, speziell der Architektur- oder der Portraitzeichnung. In den weiteren Hallen sind diverse Statuen aufgestellt, die meist in keinem besonders guten Zustand sind. Hier muessten auch mal Restauratoren ran. Immerhin gehoeren diese Tempel zum Weltkulturerbe von Pingyao dazu, da muesste doch ein bisschen Geld fuer die Pflege da sein?! Wenn das allerdings nur auf Basis von Besucherzahlen zugeteilt wuerde, bekaeme dieser Tempel zwar mehr als der Zhenguo-Tempel, aber auch nicht sehr viel. Ganz interessant finde ich die Figuren, der umgebende Heiligenschein (oder wie auch immer man das nennen mag) ist mit viel "Drahtgewirr" und Blechbuchstaben verziert. Eine Halle ist Ksitigarbha gewidmet, dem lokalen Buddha des Jiuhuashan, den wir dort schon kennengelernt hatten. Ausserdem gibt es eine vielarmige Guan Yin und sonst noch diverse Buddhas und Bodhisattvas. Auch 18 Arhats sind zugegen. Eine Besonderheit sind einige Reihen von vielleicht vierzig Zentimeter hohen Figuren normaler Menschen aus der Song-Zeit, einige eher hoehergestellt, einige eher einfache Leute.

Neben der letzten Halle leuchten rote Dahlien aus einem grossen Beet. Viele Insekten werden davon angezogen, unter anderem Taubenschwaenzchen. So, die gibt es also auch in China, diese "Kolibris unter den Schmetterlingen". Ausserdem sieht man vor allem Bienen mit dicken Pollenballen an den Beinen.

Auf der anderen Seite liegt noch eine kleine Seitenhalle, in der die gegenseitige Loyalitaet verherrlicht wird. Eine alte Frau pflegt eine kranke junge, die hier steinern unter einer echten roten Decke liegt. Ein bisschen wie Dornroeschen … ob es schon mal jemand mit Wachkuessen versucht hat? Es gibt auch ein paar huebsche Wandmalereien hinter der Szene mit den beiden Frauen: hier servieren Bedienstete Tee und Gebaeck - ja, meine Frau nimmt nach dem Aufwachen auch gern Tee und Gebaeck, wie wir aus Loriots Bettenverkauf wissen. Scheint eine universale Vorliebe zu sein. - Auf dieser Seite des Tempelareals liegt auch die Halle mit der Figur eines sehr beruehmten und sehr lebendig dargestellten Generals, dessen Kopf sich ein Kunststudent nachzumodellieren vorgenommen hat. Soweit ich den Stand der Dinge beurteilen kann, wuerde mein Urteil "Dat wierd nix" lauten … aber sein Modellierton scheint geduldig zu sein, wer weiss …

Nach dem Besuch dieses Tempels fahren wir zurueck nach Pingyao. Wir gehen jetzt die ziemlich touristische Weststrasse entlang. Am Wegesrand zeigt uns Sue eine verblichene Inschrift auf einer alten Ziegel-Fabrikhalle: das ist einer der zwei besonders beruehmten Slogans noch aus Maos Zeiten. Die Industrie nehme sich ein Vorbild an … (und dann kommt der Name eines erfolgreichen Unternehmens). Das Pendant sehen wir hier nicht: Die Bauernschaft nehme sich ein Vorbild an … (einem Modelldorf). - Es ist schon Zeit fuers Mittagessen: wir bestellen natuerlich Pingyao-Rindfleisch, eine Spezialitaet des Ortes. Offenbar gepoekelt. Kann man essen, aber dass das landesweit beruehmt sein soll … Ausserdem haben wir Auberginen in Tomatensauce und suesse Kartoffelbaellchen nach Shanxi-Art bestellt sowie lokale Nudeln in Spezialsauce. Die Auberginen sind hier keine Spezialitaet, aber seeehr lecker. Die Kartoffelbaellchen kommen zum Nachtisch, was auch sehr richtig ist: mirabellengrosse und -farbene Kuegelchen, die wie gekochte Reibeplaetzchen schmecken und in einer suessen Sauce vermutlich auf Orangensaftbasis serviert werden, in der zu Dekorationszwecken quietschrote und -gruene Kompottkirschen schwimmen. Die groesste Ueberraschung sind aber die lokalen Nudeln. Ich hatte so eine Schuessel mit Nudeln in Suppe erwartet, aber statt dessen kommt ein grosser Teller mit tomatenbasierter Sauce mit Fruehlingszwiebel- und Karottenbrunoise sowie Zwiebelstreifen und kleinen Pingyao-Beef-Schnipseln. Diese Sauce "umspielt" (oder -spuelt? ;-)) ) eine Nudelteigwabe, die offenbar dadurch entsteht, dass in der Mitte durchgeschnittene Nudelroehren (wie Cannelloni, bloss mit unbeschnittenen Kanten) aufrecht nebeneinander gesetzt werden. Sue erklaert uns, die seien aus Hafermehl und wirklich "very local". Dazu trinken wir Ingwertee mit Honig. Alles gut! Eigentlich hatten wir ja nur einen kleinen Snack gewollt, jetzt sind wir ziemlich satt. Aber ich bin's zufrieden, das alles probiert zu haben.

Solcherart gestaerkt brechen wir zur Besichtigung der Sehenswuerdigkeiten von Pingyao auf. Diese Stadt war frueher mal das Finanzzentrum des chinesischen Reiches, im 19. Jahrhundert gab es mal 56 Banken, von denen 43 in Shanxi lagen und 22 in Pingyao. Mittlerweile duerften die meisten nach Lujiazui umgezogen sein?! ;-)). Die beruehmteste Bank, in der der erste Wechsel ausgestellt wurde, heisst Rishenchang. Sie bildet heute zusammen mit einem benachbarten Bankhaus ein Bankenmuseum. Gegen Faelschungen wurden dreifache Sicherheitsmassnahmen ergriffen, erklaert uns Sue: ein spezieller Schreibstil, Siegel und ein Code-System, in dem die Zahlen durch regelmaessig wechselnde Schriftzeichen ersetzt wurden. In mehr als hundertfuenfzig Jahren Bankgeschichte sei kein Fall von Faelschung aufgetreten. Wir sehen Schreibstuben aus alten Zeiten, die Wohn- und Arbeitsraeume verschiedener Hierarchielevel von Managern, den Empfangsraum, in dem mit wichtigen Kunden ueber wichtige Geschaefte diskutiert wurde, die Wechseltafeln, anhand derer die Gold- und Silberbarren verschiedener Herkuenfte und verschiedenen Edelmetallgehalts gegeneinander aufgerechnet werden konnten.

Als naechstes besichtigen wir das Quartier eines Sicherheitsdienstes. Die waren vor allem vor der Erfindung von Wechseln wichtig, wenn es galt, Geld und Gold durchs Land zu transportieren. Da nahm man sich dann eine Eskorte von erfahrenen Wushu-Juengern, die vor allem dann, wenn sie fuer einen der beruehmten zwoelf Sicherheitsdienste arbeiteten, potentielle Raeuber schon gleich von ihrem Vorhaben abbringen koennten. Und wenn die Abschreckung nicht wirkte, sollten sie die Wegelagerer und Beutelschneider eben mit Gewalt an der Durchfuehrung ihrer boesen Taten hindern. Jeder Anbieter dieser Dienstleistung hatte seinen eigenen speziellen Kampfstil, der unter Ausschluss der Oeffentlichkeit im hintersten abgeschiedenen Hof des Hauptsitzes praktiziert wurde.

Auf dem Weg zum Suedtor, auf der Nan Da Jie, passieren wir den beruehmten Glockenturm, der hier die Strasse mit einem Torbogen ueberspannt. Fuer 5 RMB pro Person quaelen wir uns eine schreckliche Treppe hinauf. Die Stufen sind fast kniehoch und extrem ausgetreten. Von oben hat man, o Wunder!, einen Blick ueber die Daecher von Pingyao. Die sind unter dem jetzt ganz bewoelkten Himmel noch grauer, als sie es schon ganz objektiv sind. Weshalb dieser Glockenturm eine der Hauptsehenswuerdigkeiten von Pingyao ist? Das erschliesst sich mir nicht.

Im weiteren Verlauf dieser Strasse fuehrt uns Sue in die Hoefe zweier Privathotels, die noch in originalem Zustand sein sollen. Auch nicht schlecht. Dann erreichen wir das Suedtor, steigen aber zuerst auf die Stadtmauer. Pingyao ist wohl eine der wenigen Staedte Chinas, deren Stadtmauer noch erhalten ist. Hier ist der Massstab aber dann doch deutlich kleiner als in Xi'an; zwar ist die Mauer stolze 12 Meter hoch, aber nur 6,4 Kilometer lang. Rund ums Tor sind die Verteidigungsanlagen besonders ausgepraegt, ein bronzener Bogenschuetze zielt noch heute mit zusammengekniffenem Auge zwischen zwei Zinnen auf einen virtuellen Angreifer - weshalb auch ein virtueller Bogen ausreicht. Auf den etwa 2,5 umfriedeten Quadratkilometern innerhalb der Mauern sollen vierzig- bis fuenfzigtausend Leute wohnen. Wir gehen kurz vor das Tor und kommen dabei an den tief eingeschnittenen Wagenspuren vorbei, die unzaehlige Karren mit oft sicher schweren Guetern hier eingekerbt haben. Na, das sind Spurrillen! Uebrigens soll die Stadt aussehen wie eine Schildkroete: Sued- und Nordtor bilden Kopf und Schwanz, waehrend die je zwei West- und Osttore ihre Fuesse darstellen. Kaum betreten wir die Stadt wieder, bekomme ich erst einmal die schlechte Luftqualitaet zu spueren, die vor allem auf die vielfach verwendete Kohle zurueckzufuehren ist. Ich bekomme dauernd Partikel in die Augen. Wahrscheinlich kommt der jetzt einsetzende leichte Regen auf Bestellung der Stadtregierung und dient zur Klaerung der Luft …

Unser naechstes (und fuer heute letztes) Ziel ist der YaMen, der Kreisgerichtshof. Vor der ersten Halle ist an einem Tor ein Duilian angebracht, auf solchen rundgebogenen Holztafeln, die extra fuer runde Saeulen gemacht sind. Die Verse besagen etwa Folgendes: Ausserhalb dieses Tors ist die Welt angenehm, mit allzeit fruehlingshaften Winden und suessem Regen. Innerhalb herrschen schreckliche Hitze und eisige Kaelte. Da werden sich die Besucher ja ermutigt gefuehlt haben. - Der Komplex besteht aus ungezaehlten Hoefen (hier also im woertlichsten Sinn courtyards) mit Schreibstuben der Steuereinnehmer und Gerichtshallen fuer Straf- und Zivilgerichtsbarkeit. Auf den jeweiligen Tischen vor dem Richterstuhl stehen Becher mit flachen Holzstaeben, deren Enden schwarz oder rot bemalt sind. Warf der Richter die schwarzen Staebe, so bedeutete es Bestrafung, die roten hingegen zeigten ein Todesurteil an. Beim Zivilrichter fehlen daher die roten Staebe. Linker Hand steht auch gleich eine ganze Phalanx von Pruegeln fuer die Pruegelstrafe. Da konnten die Vollstrecker mit der flachen Seite zuschlagen oder mit der Schmalseite, was schon damals einen gewissen Anreiz zur Bestechung bot. - Hinter den Gerichtsraeumen liegen die Wohnung des Gouverneurs und obersten Richters (so habe ich es verstanden, faellt mir jetzt beim Schreiben auf - keine Gewaltenteilung?!) sowie die Kueche fuer den Gouverneur und die hoeheren Beamten. Im Obergeschoss des Kuechengebaeudes hatte der unsterbliche Fuchs eine Bleibe und einen Job gefunden: das Amtssiegel des Gouverneurs bewachen.

Wir besichtigen noch diverse Hoefe dieses Komplexes, den Gartenhof mit einem kleinen Teich und einem Brunnen aus der Song-Dynastie, in dem einmal ein glueckbringender Karpfen gesichtet worden sein soll, eine Theaterbuehne und den FengShui-Turm, von dem aus wir jetzt einen wunderbaren Blick auf das Abendrot unter regendunklem Himmel haben. Burkhard will die Abendstimmung einfangen, ich will aber noch das Gefaengnis sehen. "You go to jail, I go out," sagt er. Ja dann. Die Zellen fuer die "normalen" Delinquenten sind nicht schlechter als manche Wohnstuben: dunkle Loecher, aber mit einem kleinen Fenster, einem Bett und einem Heizoefchen. Nur die Schwerverbrecherkammer ist ein dunkles Loch mit nichts (oder ohne alles. ;-). ). In weiteren Saelen werden Folterinstrumente aus den vier Gruppen "Zurschaustellung", "Transport und 'Aufbewahrung'", "Hinrichtung" und "Verhoer" gezeigt. Genau so schaurig und pervers wie in Europa. Damit ist die Besichtigung beendet, und die Nacht bricht jetzt auch mit Macht herein. Und das um sechs Uhr abends.

Zum Abschluss des Tages goennen wir uns einen Caffè Latte; ansonsten sind wir noch satt von unserem ausgiebigen Mittagessen. Danach nehmen wir noch eine Fussmassage (ah, tut gut nach dem Tag auf den Beinen!), und dann finden wir anhand von Sues Beschreibung ohne Probleme den Weg zurueck zum Hotel. Sie war schon ganz besorgt gewesen, ob sie uns wohl allein lassen koennte. Ja doch!!