"Bei Vollmond wird der Wat, sobald sich die Decke aus Dunkelheit ueber ihn gelegt hat, gleich wieder zu schauerlichem Leben erweckt. Wenn die Tuerme gerade in der Finsternis fast verschwunden sind, umreisst ein blasses ueberirdisches Licht hinter ihnen ihre Form aufs Neue, und dann steigt eine riesige leuchtende Scheibe langsam durch einen fedrigen Wolkenschleier empor, wobei sie veraechtlich einen schwachen Stern erstickt, der dem dunkler werdenden Himmel schuechtern einen winzigen Lichtpunkt aufgesetzt hatte. Und in den seltsamen, metallisch-gelblichen Strahlen des Mondes werfen Sie Ihren eigenen langen Schatten vor sich auf die steinernen Bodenplatten des Dammwegs, als Sie sich schliesslich widerstrebend vom Tempel abwenden und Ihnen durch den Kopf geht, dass Sie erst noch die dunkle Halle der aeusseren Fassade passieren muessen, bevor Sie sicher sein koennen, dass Sie die Gesellschaft der Geister, die den Ort nach Sonnenuntergang fuer sich beanspruchen, hinter sich gelassen haben.
Um einen von ihnen auszumachen, brauchen Sie keine gestoerte Fantasie; werfen Sie nur einen Blick auf eine der Vorhallen an einer Stelle, an der ein Teil des Daches eingestuerzt ist. Dort steht eine grosse menschliche Gestalt; durch das Loch im Dach faellt das Mondlicht voll auf die Krone auf seinem Haupt, mit dem er sachte nickt, als ob er mit jemandem plaudern wuerde, den die Schatten vor Ihren Augen verbergen. Am naechsten Morgen werden Sie die alte brahmanische Gottheit unbeweglich und teilnahmslos wie eh und je an ihrem angestammten Platz finden, und der gesunde Menschenverstand wird Ihnen sagen, dass die einzigen Dinge, die sich an seinem Zufluchtsort zu naechtlicher Stunde bewegen konnten, die Fledermaeuse waren ... aber seltsamerweise haben solche Argumente sehr wenig Ueberzeugungskraft, wenn Sie ihn um Mitternacht allein besuchen!
Man muss uebrigens nicht bis zum Einbruch der Nacht warten, um in Angkor Wat die Naehe der Geister zu spueren. Zu allen Zeiten ist der Wat voll von ihnen: Geister von Priestern und Prinzen in Prachtgewaendern, von Wallfahrern und Tempeldienern und Taenzerinnen, und vor allem von den Tausenden einfacher Arbeiter, die geschuftet haben, um ihn zu errichten und auszuschmuecken. Ihnen kommt es so vor, als saehen Sie sie ueberall in der heissen Sonne, wie sie sich abrackern und schwitzen, mit blutenden Haenden und gedehnten Sehnen, unter den Peitschen der Aufseher und dem Laerm der Antreiber-Musik, die ihre Schreie uebertoent; wie sie die riesigen Steinbloecke ziehen, schieben, rollen und mit einer Zauberkraft, die uns auf immer verborgen bleiben wird, aufrichten und in Position bringen, um dann ihre Oberflaeche so lange zu reiben, bis die Verbindungsstellen unsichtbar geworden sind. Ueberall in den Hoefen und Galerien, in denen die himmlischen Taenzerinnen von den Waenden herablaecheln und vergangene Schlachten in dem schwankenden Panorama aufs Neue ausgefochten werden, braucht es nur wenig Fantasie, um das Klopfen der geisterhaften Meissel zu hoeren oder das schwache Klirren, das entsteht, wenn einer beiseite gelegt und ein anderer zur Hand genommen wird. Und waehrend Sie gemaechlich die endlosen schattigen Galerien der Flachreliefs abschreiten, die vom grellen Licht draussen widerstrahlen, halten Sie instinktiv Abstand von den Rueckwaenden, aus Angst, die Bildhauer zu stoeren, die - so stellen Sie es sich jedenfalls vor - dort hocken oder stehen und kurz aufsehen, wenn Sie vorbeigehen, oder von ihren leichten Bambusgeruesten herunterschauen, mit demselben stummen, traurigen Blick, mit dem auch ihre Nachkommen Sie ansehen, wenn Sie ihnen auf den Strassen oder Waldpfaden des heutigen Kambodscha begegnen.
Die meiste Zeit ueber sind die am hoechsten gelegenen Hoefe des grossartigen Wat so friedlich und still wie ein Berggipfel und werden genau so selten gestoert. Sie koennen dort so einsam sein wie der, der 'allein auf einen Berg stieg, um zu beten'; und, seltsam genug, dieser luftige Horst ist nicht etwa in der Morgendaemmerung oder bei Sonnenuntergang am einsamsten, sondern zur Mittagszeit, wenn alle Welt im gleissenden Sonnenschein zu schlafen scheint. Der ganze riesige Tempel ist in eine heisse, atemlose Stille getaucht, in die hin und wieder das Pfeifen einer Fledermaus wie ein Tropfen in ein Wasserbecken faellt; oder vielleicht wird eine 'Tokek'-Eidechse die Stille mit ihrem eigenartigen heiseren Ruf aufschrecken, den sie noch ein paar Mal wiederholt, immer leiser, bis er schliesslich unbeendet erstirbt, ganz so, als ob auch sie in einen Traum abgedriftet waere."
Damit habe ich, wie bereits erwaehnt, meinen Vorrat an Sommer-Sonne-Farbe-Waerme-Geschichten aus Angkor Wat aufgebraucht. Diesen Text von H. G. Ponder findet man uebrigens auch in der englischen Fassung online. Und immerhin, so kann ich erfreut berichten, sah es heute draussen nicht mehr furchtbar aus, es war vielmehr ein ganz klein wenig blau und zeitweise auch sonnig.
Jaja, ich weiß, manche/r hätte gern mehr Fotos aus Shanghai und von unterwegs gesehen ... insgesamt sind in den vergangenen dreieinhalb Jahren ca. 45.000 Stück entstanden. Aber das hat man eben nur zum Teil meiner Faulheit zu verdanken - zu einem mindestens genau so großen Teil der chinesischen Regierung mit ihrer "great firewall". Hoch lebe das freie Internet!
Wer weiterhin meine Bemerkungen über Gott und die Welt lesen möchte, klickt bitte hier:
Das neue Jahr des Schweins
Wenn ich es schaffe, gibt es hier übrigens auch noch Updates, und zwar aus den bisher unveröffentlichten Reisetagebuchnotizen.
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