Nach dem Besuch bei den Unsterblichen fahren wir zurueck in die innere Stadt. Den Mittelpunkt bildet der Glockenturm, wobei man das nicht mathematisch interpretieren darf. Hier schneidet die Nord-Sued-Achse die Ost-West-Achse, aber letztere ist, ich erwaehnte es, nach Sueden verschoben. Wie auch immer, wir besuchen erst einmal den Trommelturm, ein zweistoeckiges Gebaeude auf einem stadtmauerhohen Sockel. Auf dem Dach und in den Baeumen davor flattern zahllose Drachen. Die Dachenden, Firstverzierungen und Baumkronen garantieren den ebenso zahllosen Drachenverkaeufern ein nachhaltig gutes Geschaeft. Hier bevorzugt man die langkettigen Versionen mit 50 bis 60 einzelnen "Draechelchen".
Im ersten Geschoss des Trommelturms gibt es eine Trommelausstellung, die von hehren Worten ueber "die chinesische Trommelkultur" begleitet wird. In der Aussengalerie stehen neben einigen besonders riesigen Exemplaren mit rot lackiertem Korpus und goldfarbenen Nieten zum Spannen der Haut 24 Jahresabschnittstrommeln fuer die zwei mal zwoelf Monde eines Jahres. Deren "Trommelfelle" sind in roter Siegelschrift mit den Namen dieser Abschnitte beschriftet. Die grossen Trommeln haben bestimmt einen Durchmesser von 3 Metern - welches Tier hat so grosse Trommelfelle?!! ;-))
Im Obergeschoss befindet sich ein gewisses Sammelsurium, das wohl eine Moebelausstellung darstellen soll. Zwischendrin haengen allerlei chinesische Opernmasken. Es gibt dort auch vermutlich glueckbringende Figuren, die schon in ihren Glaskaesten so weit mit Geld zugeschuettet wurden, dass man sie nicht mehr erkennen kann. Das Beste hier ist der Umgang, von dem aus man einen schoenen Blick auf den Glockenturm hat.
Eine Viertelstunde wollen wir nicht warten, bis es um halb drei die naechste Trommelvorfuehrung gibt. Deshalb nehmen wir jetzt die unterirdische Passage zum Glockenturm. Der wird naemlich von einem vielspurigen Kreisverkehr "umzingelt", so dass es nicht ungefaehrlich sein duerfte, ihn oberirdisch zu erreichen. Aber auch die Passage hat niedrige Deckenteile, an denen selbst solche Riesen wie wir uns die Koepfe einschlagen koennen.
Der Glockenturm hat, abweichend vom Trommelturm, keinen rechteckigen, sondern einen quadratischen Grundriss. Er beherbergt - dreimal raten! - eine Glockenausstellung, zur Foerderung der chinesischen Glockenkultur, versteht sich. Hier wird auch gerade noch ein Glockenkonzert gegeben. Im Obergeschoss gibt es wenige Kalligraphien und viele traditionelle chinesische Bilder von einem gewissen Qi Baishi, einem Kuenstler des 20. Jahrhunderts. Am meisten fallen mir seine schelmisch dreinblickenden Voegel auf. Vom Umgang aus kann man auf die gegenueber liegende Kaiyuan Mall schauen, ein gar nicht mal sooo schoenes Betonkonstrukt, das erste grosse Einkaufszentrum am Platz. Im Changlege auf der Mauer hatte uns David erzaehlt, dass dieses Gebaeude ein Feng-Shui-Problem hatte, weil eine scharfe Ecke des Glockenturms direkt daraufzeigt und den positiven Energiefluss einfach abschneidet. Aber dann hat man ueber dem Eingangsbereich ein grosses Glasdach mit etwa 45 bis 60 Grad Neigung angebracht, das alles Boese einfach wegspiegelt! Und um das shui (Wasser) weiter zu verbessern, laesst man jetzt Wasser ueber das Glasdach stroemen. Da kann es ja nur noch richtig gut sein! Oberhalb des Wasserfalls belabert eine Reklamewand die Welt mit Botschaften, die keiner hoeren zu wollen scheint. Ich werde aber doch aufmerksam, als sogar hier der blaue Haibao froehlich herumspringt und fuer die Expo 2010 wirbt.
Zurueck geht es jetzt wieder durch die unterirdische Passage, in der es eine Ansammlung von Luxusgueterlaeden aus aller Welt gibt, vorwiegend Edelklamotten. Aber eben ohne Tageslicht. Was ist noch gleich der Reiz, wenn es ueberall an jedem Ort der Welt die gleichen Markenfummel gibt? Ich kann es mir einfach nicht merken … Hinter dem Trommelturm geht es in die muslimische Strasse, wo wir nun erst einmal an ein Mittagessen denken; es ist schon etwa drei Uhr nachmittags. Wir essen Lammfleischspiesse (nicht "hammelig") und Rindfleisch-Gemuesenudeln, die bissfest sind und durch mitgeschmorte Tomaten eine angenehme Frische bekommen.
Solcherart gestaerkt gehen wir weiter auf dieser bunten und belebten Strasse, auf der es reichlich Trockenobst, verschiedene Nuesse und Kerne und andere (zum Teil fuer mich undefinierbare) Leckereien gibt. Bald darauf biegen wir aber nach links in eine enge Gasse ab, die ich ohne Fuehrer im Leben nicht wahrgenommen haette. Ich habe auch keinen Wegweiser zur grossen Moschee gesehen, da wollen wir naemlich hin. Und nach zwei, drei Biegungen sind wir auch inmitten eines typischen Souvenirbasars und am Eingang zur Moschee angekommen. Die sieht total chinesisch aus, mit diversen Hoefen, Toren und Pavillons und Seitenhallen, und wenn nicht einige arabische Kalligraphien an den Waenden prangten, haette es genau so gut ein Tempel sein koennen. Mittlerweile ist es warm und sonnig, und die Anlage hat die Atmosphaere eines leicht vertraeumten alten Gartens. Es gibt zwar einige Touristen, aber sie treten nicht allzu gehaeuft auf, und die relativ zahlreichen Kunststudenten oder Montagsmaler (alles meistens -innen) tun der Stimmung auch keinen Abbruch. Beliebtestes Motiv zum Zeichnen ist der Pavillon der Sorglosigkeit, welcher als Minarett dient. Allerdings kommt waehrend unseres Aufenthalts kein Muezzin. Die Haupthalle ist fuer Besucher nicht zugaenglich, wohl auch nicht fuer Beterinnen. Darin sind wertvolle chinesisch und arabisch beschriftete Tafeln zu sehen, hoert und liest man. Vor der Halle treffen wir zwei Italiener, die in Suedafrika ihre zweite Heimat gefunden haben. Wir geniessen noch ein wenig die schoene, ruhige Sommernachmittagsatmosphaere. An kleinen Kuebelbaeumchen haengen ein paar vollreife Orangen, die mit den tuerkisfarbenen glasierten Dachziegeln kontrastieren, und im Schatten einer der Seitenhallen steht eine von angeblich nur vier Sonnenuhren, die es in China gaebe. Ohne Schattenwerfzeiger und vor allem ohne Sonne ist sie natuerlich nicht sehr beeindruckend: eine quadratische Steintafel mit einigen Reihen von Loechern. Ansonsten gibt es in der "Exhibitn" (sic) nichts besonders Erwaehnenswertes.
Das Programm ist damit fuer heute beendet; vor der Moschee verabschieden wir uns von David. Ich habe auch schon einen Plan: im Starbucks am Glockenturm sitzen, Eiskaffee trinken, bloggen und auf die blaue Stunde warten. Aber vorher haben wir ja noch die "Basarstrasse" vor uns und die "Futterstrasse". Die Laeden haben denselben Kram wie die in Shanghai in der Fangbang Lu, nur dass es einige wenige gibt, die "Moslembedarf" fuehren, Kaeppis und Kopftuecher und handgeschriebene Suren. Die Esswarenverkaeufer haben hier ausser Nuessen und Trockenobst auch (vermutlich) Suessigkeiten, die wir uns mal wieder nicht zu probieren trauen. Die eine Sorte sieht aus wie ein gelber Kuchen aus einer Art festen Teigmasse mit Datteln (?) darin, das andere ist ein flacher Fladen vermutlich aus Klebreis mit einer hellen und einer dunklen Schicht, der in pralinengrosse Stuecke geschnitten wird, die dann aber "haufenweise" (und nicht wie Pralinen huebsch angerichtet) verkauft werden. Ausserdem beliebt: gegrillte Hammelfuesse (zuerst dachte ich ja schon, es seien Schweinsfuesse - aber das geht in einer muslimischen Strasse natuerlich gar nicht) und Walnussroester, in denen die ungeknackten Nuesse in heissem Sand umgewaelzt werden. Die Gegend wird jetzt ein bisschen hektisch, es scheint, dass in der Mitte der Strasse noch zusaetzlich mobile "Geschaefte" vor der Abendessenszeit ihre Plaetze in einer langen Reihe finden muessen. Kurz vor dem Trommelturm faellt mittlerweile die Spaetnachmittagssonne auf die Staende mit dem ohnehin schon farbenfrohen Trockenobst, das richtig zu leuchten beginnt. Und dann gibt es noch Staende, die eine Art gedaempfter Leckerei verkaufen: Aus jeweils drei Daempf"tuermchen", deren Durchmesser nicht groesser ist als das, was man umspannen kann, wenn man beide Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis zusammenlegt, steigt der Dampf auf, und auf den Waegelchen stehen mehrere Toepfe mit Zutaten fuer ein wohl suesses "Sahnehaeubchen" (was hier ausschliesslich im uebertragenen Sinn verstanden werden darf).
Schliesslich langen wir bei Starbucks an und finden sogar einen Platz draussen. Eiskaffee trinkend und bloggend vergeht eine gute Stunde, dann will die Sonne so langsam untergehen, und wir begeben uns in den Park ueber den unterirdischen Nobelklamottenlaeden. Und da erwische ich irgendwann diese bloede "discard"-Option, so ein Mist! Burkhard ist es aber zufrieden, weil er ganz schoene Bilder vom erleuchteten Glockenturm und dem ganzen Platz machen kann, auch mit den modernen Glaspyramiden, die einen Lichthof der Passage ueberspannen und einen schoenen Kontrast zu der traditionellen Architektur bilden.
Linker Hand liegt ein sehr grosses Restaurant, das sich ruehmt, in Xi'an der aelteste und beste Platz fuer Dumplings zu sein. Gute Anekdote: ein so selbstbewusster Laden goennt sich eine recht grosse Holztafel mit einer vergoldeten Kalligraphie seines Namens. Waehrend ich die so betrachte, liest Burkhard langsam vor: de---fa---chang. Ich bin sehr beeindruckt, nutzt die Tafel doch traditionelle Schrift, und waehrend ich das traditionelle Zeichen fuer chang kenne, bin ich bei fa gar nicht so sicher. Aber dann stellt sich heraus, dass er bloss die dreimal so grossen Neonbuchstaben (in vereinfachter Schrift) oberhalb der Tafel gelesen hat, die jetzt schon angeschaltet worden sind. Na, das kann ich auch! - Jetzt sind wir aber noch zu satt, um hier essen zu gehen, und nehmen statt dessen ein Taxi zum Hotel. David hatte gesagt "5 Minuten mit dem Taxi, 10 zu Fuss" - aber ich denke, dass es zu Fuss bestimmt mindestens 25 Minuten dauert. Im Hotel schreibe ich dann alles noch einmal, was ich schon hatte, und kultiviere meinen Frust. So gerate ich schon am allerersten Tag in Rueckstand, wie schrecklich!
Jaja, ich weiß, manche/r hätte gern mehr Fotos aus Shanghai und von unterwegs gesehen ... insgesamt sind in den vergangenen dreieinhalb Jahren ca. 45.000 Stück entstanden. Aber das hat man eben nur zum Teil meiner Faulheit zu verdanken - zu einem mindestens genau so großen Teil der chinesischen Regierung mit ihrer "great firewall". Hoch lebe das freie Internet!
Wer weiterhin meine Bemerkungen über Gott und die Welt lesen möchte, klickt bitte hier:
Das neue Jahr des Schweins
Wenn ich es schaffe, gibt es hier übrigens auch noch Updates, und zwar aus den bisher unveröffentlichten Reisetagebuchnotizen.
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Freitag, 24. April 2009
Montag, 20. April: Weiter in Xi'an herum
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